Cayin CS-100A KT88 – Röhre? Natürlich Röhre!
Der große Cayin zählt nicht unbedingt zu den typischen Vertretern der Gattung Röhrenverstärker. Und genau deshalb könnte er für manche das ultimative Herzstück der Wiedergabekette sein: eine famos klingende, verblüffend kraftvolle Maschine zwischen den Klangwelten.
Klar, das Klischee greift schon geraume Zeit nicht mehr. „Der Röhrenverstärker“ ist heutzutage kein fragiles, ätherisch klingendes Spezialistengerät mehr, das vor allem abgehobene Esoteriker erfreut, die ihre Anlage ausschließlich mit Software füttern, die Hans Otto Normalhörer nur mit Mühe überhaupt als Musik identifizieren kann. Auch die Wahl besonders wirkungsgradstarker Lautsprecherkonstruktionen gehört längst nicht mehr zum Pflichtprogramm. Natürlich gibt es noch immer kleine Röhrenverstärkerchen, die pro Kanal kaum zwei, drei oder fünf Watt mobilisieren und daher nach hocheffizienten Spielpartnern gieren, die diese Kleinleistungen in brauchbaren Schalldruck umsetzen.
Allein, mit dieser Spezies hat der CS-100A KT88 als Flaggschiff der chinesischen Traditions-Verstärkerschmiede Cayin rein gar nichts zu schaffen. Der elegante Kraftprotz verfügt in seiner KT88-Version über ausgesprochen kräftige 80 Watt pro Kanal (es gibt noch ein preisgünstigeres und etwas schwächeres Schwestermodell mit EL34-Bestückung), und selbst wenn man per Knopfdruck von „Ultralinear“- auf Trioden-Betrieb wechselt, stellt die schön anzuschauende Röhrenphalanx immer noch zweimal 50 Watt zur Verfügung.
Nach dem Einschalten signalisiert eine blinkende weiße Leuchtdiode im Lautstärkeregler, dass sich der Cayin in der Aufheizphase befindet. In seinen Eingangs- und Treiberstufen werkeln übrigens je zwei 12AU7EH und 12BH7EH sowie eine 6SN7-GTB. Sobald die Schaltung des Cayin ihre Betriebstemperatur erreicht hat, was nicht allzu lange dauert, leuchtet die Statusdiode dauerhaft und zeigt mir außerdem die aktuelle Lautstärkeeinstellung an. Das ist klug gelöst und passt zum schlichten Design des stattliche 30 Kilo schweren Verstärkers. Auf seiner Front befinden sich ansonsten nur noch der Eingangswähler, vier grüne LEDs zur Anzeige der gerade aktiven Quelle, vier Kippschalter zur Überprüfung respektive Einstellung des Bias sowie ein „harter“ Netzschalter ohne Standby-Funktion.
Das konsequente Weglassen von Überflüssigkeiten prägt auch den Klang dieser gute Laune verbreitenden Musikmaschine. Ich gebe es zu: Röhrenverstärker haben mich zwar seit jeher fasziniert, aber am Ende bin ich doch immer zu irgendwelchen Transistorkonstruktionen zurückgekehrt, weil die manches doch besser konnten oder zumindest anders machten.
Dieses schwer greifbare und noch schwerer artikulierbare Gefühl – beim Cayin CS-100A KT88 hat es seine Grundlage verloren, denn er vereint das Beste zweier Welten: den immensen Klangfarbenzauber von guten Röhrenschaltungen und den brillanten Punch von guten Transistorkonstruktionen.
Was bei mir im Laufe von ausgedehnten Hörsessions in die Player-Schublade beziehungsweise auf den Dorn des Plattenlaufwerks wanderte, um dem Cayin auf den Zahn zu fühlen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Deshalb beschränke ich mich an dieser Stelle auf eine kleine, aber aussagekräftige Auswahl. Zu meinen Lieblingsscheiben zählt seit vielen Jahren Madeleine Peyroux’ feines Barjazz-Album Careless Love, das vor allem in der von MFSL remasterten LP-Version zu den bestklingenden Tonträgern der wandlungsfähigen Sängerin mit der Billie-Holiday-Stimme zählt. Über den CS-100A im „Ultralinear Mode“ hat die feine Scheibe Druck und Groove, Kontur und Detailfülle, wobei der Cayin mit Details so behutsam, ja fast schon liebevoll umgeht, wie es vielfach teurere Transistorverstärker gerade so eben schaffen. Im Trioden-Modus wird die Wiedergabe eine Winzigkeit leiser, in den Höhen eine Spur gedeckter, aber auch deutlich homogener, während die Klangfarben fühlbar aufblühen. Stark vereinfacht ausgedrückt: Der Trioden-Modus klingt „röhriger“ und kommt dem entspannten Langzeit- und Genusshörer entgegen, bei voll erhaltenem Fußwipp- und Mitgeh-Potenzial. Will ich mehr Schub und mehr Höhenglanz – eine Entscheidung, die sehr eng mit dem jeweiligen Musikmaterial zusammenhängt –, dann schalte ich per Knopfdruck auf „UL“ um und werde mit einer Spur mehr Raum und Luft sowie subjektiv noch schnellerer Impulsverarbeitung belohnt.
Ein weiterer Aspekt absoluter Alltagstauglichkeit ist die Fähigkeit des Cayin, „ganz normale“, also nicht extra auf hohen Wirkungsgrad getrimmte Lautsprecher sehr stimmig und ohne Einschränkungen anzutreiben. Erst bei Pegeln, die dem Gehör definitiv nicht mehr zuträglich sind, oder bei Bassschlägen, die schon Fenster und Türen zum Mitschwingen bringen, beginnt der Cayin, seine Überforderung mit röhrentypischen Verzerrungen mitzuteilen.
Gleichwohl wirkt der Tiefbass dieses Verstärkers, sofern die restlichen Parameter passen, durchaus spektakulär. Im Audio-Note-CD-Player dreht sich eine CD, die ich schon vor einigen Jahren kaufte, aber noch eingeschweißt ins Regal gestellt und dann schlichtweg vergessen hatte: der Soundtrack zum ersten James-Bond-Film mit Daniel Craig, Casino Royale. Über die filmischen Qualitäten dieses Actionstreifens, der mir persönlich zu viele Prügelszenen und zu wenig Bond enthält, kann man geteilter Meinung sein – die von David Arnold komponierte und produzierte Musik taugt nichtsdestotrotz wunderbar für Hörchecks. Hier ersetzen zwar hochwertige Computersamples ein tatsächliches Orchester und ein Großteil der Tracks sind deskriptive „Soundscapes“ für mehr oder weniger dramatische Filmszenen – aber dafür gibt es wahre Tiefton-Orgien, die im Kino für Stimmung sorgen und an der heimischen Stereokette einiges über den Frequenzumfang aussagen, dessen der Verstärker fähig ist. Mir bescherte Bond außerplanmäßige Besuche irritierter FIDELITY-Kollegen im Hörraum, weil das über die Wilson Audio Yvette wiedergegebene Tieftonspektrum trotz eines Pegels nur leicht über Zimmerlautstärke (Ach ja? Anm. d. Chefredakteurs) den Redaktionsboden zum Schwingen brachte.
Dabei löst sich diese überaus profunde Basis nicht wie bei anderen Verstärkern vom Rest des Klanggeschehens, sondern bleibt integraler Bestandteil eines großformatigen Panoramas aus einem Guss.
Ja, Panorama. Der große Cayin zaubert nicht nur über die in dieser Hinsicht sowieso herausragend guten Wilson Audio Yvette, sondern beispielsweise auch über meine aus den Achtzigern stammenden Oldtimer-Dipole Magnasphere Astra eine ungemein breite und tiefe Bühne in den Hörraum. Zugleich bekommen virtuelle Schallereignisse mit dem kräftigen CS-100A ihren festen Platz zugewiesen und beginnen auch nicht zu „wandern“, wenn sich Lautstärke oder Tonhöhe ändern. Dass die Musik sich völlig von den Boxen löst, versteht sich in diesem Kontext schon beinahe von selbst. Ist aber auch ein gutes Argument, wenn man sich selbst gut zuredet, 4300 Euro für einen Röhren-Vollverstärker auszugeben, der gerade einmal drei Hochpegeleingänge (plus Endstufeneingang) besitzt.
Ausgesprochen berückend klingt – was eigentlich auch nicht verwundert – Stoff aus der Zeit, als Röhrenverstärker auch und gerade in Tonstudios noch das Maß der Dinge waren. Henry Mancinis jazzgetränkter Soundtrack zu der hinreißenden Audrey-Hepburn-Komödie Breakfast At Tiffany’s entstand 1962 und steht bei mir nicht nur wegen des schmusigen „Moon River“-Themas in der Ecke mit den Lieblingsplatten. Über den CS-100A katapultiert mich die Musik in die Ära von Technicolor und Breitwand-Kino, New Yorker Bohème und jener bestens zu ertragenden Leichtigkeit des Seins zurück, welche die Sixties auch nach der Ermordung JFKs noch eine ganze Weile prägte. Mancinis Filmmusik ist mehr als Illustration für sowieso farbstarke Momentaufnahmen aus dem Leben eines frühen It-Girls, sondern darüber hinaus ein sehr plastisches Beispiel für Mancinis Kunst, den Spagat zwischen zweckgebundener Programmmusik und zeitlosen Swingnummern zu vollführen. Mit dem Cayin als Spielpartner geht das ordentlich nach vorne, wobei ich angesichts der massiven Bläsereinsätze auf diesem Vinylschatz aus der „Living Stereo“-Hochzeit der RCA wieder einmal die „Ultralinear“-Einstellung präferiere. Den kleinen „Nachbrenner“ braucht es hier einfach, um die Energie der Musik ungebremst über die Rampe zu bringen.
Das funktioniert genauso – oder noch besser – bei großer Sinfonik. Als der 1903 geborene Dirigent Øivin Fjelstad mit dem London Symphony Orchestra Edvard Griegs Schauspielmusik zu Peer Gynt für Decca einspielte, kam eine Sternstunde der Schallplattengeschichte dabei heraus. Die SXL 2012 gehört im Original heute zu den gesuchtesten (und entsprechend teuren) Produktionen der frühen Stereo-Ära. Die Wiederveröffentlichung von Speakers Corner transportiert in Geldbeutel-freundlicherer Manier praktisch 100 Prozent der Vorlage – und klingt über den Cayin so transparent und präsent, so luftig und dennoch auf den Punkt abgemischt, dass ich mir wieder einmal die Frage stelle, wo eigentlich bei der Tontechnik auf dem Klassiksektor der Fortschritt zu suchen ist.
Auch nicht gerade fortschrittlich, aber immer noch verführerisch für manche Röhrenfans ist, dass der Cayin dank seines Einmessinstruments eine große Spielwiese für wechselwillige Röhrenfans darstellt. Sie können zum Beispiel NOS(New Old Stock)-Röhren ausprobieren und damit den Klangcharakter des Amps beeinflussen. Ich persönlich kann allerdings auch gut ohne diese Experimente leben. Denn der CS-100A klingt selbst frisch ausgepackt schon so feinsinnig und charmant, derart „richtig“ und punktgenau abgestimmt, dass sich das Verbesserungspotenzial bei der Röhrenbestückung in Geschmacksfragen erschöpfen dürfte. Und das ist doch sehr beruhigend.
Cayin CS-100A KT88
Röhren-Vollverstärker
Bestückung: 1 x 6SN7-GTB, 2 x 12BH7EH, 2 x 12AU7EH, 8 x KT88
Leistung (Ultralinear/Triode): 2 x 80/50 W
Eingänge: 3 x Hochpegel, 1 x Endstufe, jeweils unsymmetrisch (Cinch)
Ausgänge: 2 x Sub out (Cinch), 1 Paar Lautsprecher (Abgriffe 8/4 Ω)
Besonderheiten: Fernbedienung, Trioden- oder Ultralinear-A/B-Betrieb umschaltbar, integriertes Messinstrument; optional auch mit Leistungsröhren EL34 lieferbar
Ausführungen: Gehäuse und Schutzgitter (abnehmbar) Anthrazit metallic, Frontplatte Aluminium silber oder schwarz
Maße (B/H/T): 42/20/40 cm
Gewicht: 30 kg
Garantiezeit: 2 Jahre
Preis: 4300 €
Mitspieler
CD-Player: Audio Note CDT-3/DAC-3, Ayon CD-3s
Plattenspieler: Audio Note TT-2, TechDAS AirForce III
Phonoentzerrer: Einstein The Turntable’S Choice, Synthesis 79 Roma
Lautsprecher: Avantgarde Acoustic Uno XD, KEF LS50, Stereofone Dura, Wilson Audio Yvette
Kabel: AudioQuest, HMS, Vovox