Hörstoff: Die Weihnachts-Depression
Hans-Jürgen Schaal hat zu Hause weder Christbaumkugeln noch Lametta. Dafür hat er ein paar Silberscheiben gefunden, die garantiert jede Weihnachtsstimmung vertreiben. Leiden Sie mit!
Es gibt ja nun wirklich genug Gründe, um depressiv zu werden. Denken Sie nur an den Hunger in der Welt. Die Euro-Krise. Die Radikalen sämtlicher Religionen. Den viel zu kurzen Sommer dieses Jahr. Oder den aktuellen Tabellenplatz des FC Augsburg. Also wirklich, da bräuchte es nicht auch noch Weihnachten. Ein Bekannter von mir hat eine ärztlich bescheinigte Christougennitis. Das ist so eine Art Weihnachten-Phobie. Da dürfen Sie nicht mal das Wort „Gänsebraten“ sagen, dann bekommt der schon Bauchweh und Schüttelfrost. Ganz schlimm ist es bei „Tannenbaum“ oder „Adventskranz“. Jedes Jahr im Dezember ist der krankgeschrieben und liegt zu Hause im abgedunkelten Wohnzimmer. Ohne Fernseher, Internet und Telefon. Seine Nachbarin sorgt dann für ihn. Die ist Muslimin. Da besteht keine Gefahr, dass sie über Adventskränze redet.
Ich bin da besser dran. Ich habe nur meine ganz gewöhnliche Weihnachts-Depression. Die kommt verlässlich jedes Jahr. Frühe Symptome spüre ich meist schon Ende September, wenn bei Norma die ersten zu Weihnachtsmännern umgeschmolzenen Schokolade-Osterhasen auftauchen. Im Lauf des Oktober macht das Einkaufen bei Norma dann überhaupt keinen Spaß mehr. Völlig unerträglich aber wird mir dieser ganze Planet mit Beginn der Adventszeit: „Jingle Bells“ in allen öffentlichen Räumen, Glitzerkram in jeder Eingangshalle, kletternde Nikoläuse und lachende Rentiere in jedem Garten, goldene Werbeprospekte in jeder Zeitung, blinkende Fenster nachts an jeder Hausfront. Dann diese Fragen: Haben Sie schon Ihre Geschenke gekauft? Was kochen Sie an Heiligabend? Kommen die Eltern zu Besuch? Lange vor dem Vierundzwanzigsten bin ich ein seelisches Wrack.
Wie man weiß, erreichen Familienstreitigkeiten, Gewalttaten und Suizide an Weihnachten Rekordwerte. Mich wundert das nicht. Ich erfinde an den Feiertagen laufend Ausreden, um im Keller abtauchen zu können, bei meinen CDs und Schallplatten, den Fachbüchern, dem Computer. Ich murmle „Muss noch schnell E-Mails checken“ oder „Dringender Auftrag von FIDELITY“, vergrabe mich dann tief in der Erde und hoffe, dass die weihnachtliche Welt mich einfach vergisst. Nur leider wird es an den Tagen danach auch nicht besser. Glitzerkram, Glockengeläut, Kinderchöre und lachende Rentiere halten auch dann ihr totalitäres Regime aufrecht. Alles dreht sich ums Geschenke-Umtauschen, Gutscheine-Einlösen und die Frage: Wie war Weihnachten? Die letzten Freunde, bei denen man Zuflucht finden könnte, sind dagegen plötzlich alle verschwunden, zum Skifahren oder nach Mallorca, nur ihre Anrufbeantworter und E-Mail-Responder halten die Stellung. Zu allem Überfluss sind die Tage schauerlich kurz, der Morgen geht direkt über in die Abenddämmerung. Ich habe den Dauer-Blues, er ist nachtblau, er ist grottenschwarz.
Dann: Silvester, noch so ein Horror. Mit 20 mag Silvester noch Spaß machen, aber wie viele Silvester kann man ertragen? Mein Vater legte sich an Silvester immer gleich nach dem Abendessen ins Bett: Angeblich erinnerte ihn das Geballere zu sehr an den Krieg. Mich erinnert es nicht an den Krieg, sondern an Silvester vor einem Jahr. Und vor zwei Jahren. Und an all die Silvester davor. Und wann hört das alles auf? Die kletternden Nikoläuse hängen immer noch, die Weihnachts-Girlanden über den Straßen auch. Inzwischen kommen die Leute aus Mallorca zurück und wünschen ein gutes neues Jahr. Das tun sie neuerdings wochenlang, bis in den Februar hinein. Der Weihnachtsschmuck in den Gärten, an den Fenstern, auf den Straßen hängt manchmal sogar bis in den April. All die Monate mit „r“ – von September bis April – kann ich glatt vergessen. Bleiben nur Mai bis August. Was man hierzulande Sommer nennt. Wenn es kalt ist und regnet.
Mir bleibt nichts übrig: Ich muss mit meiner Weihnachts-Depression leben, wir sind füreinander bestimmt. Also: Abtauchen in den Keller, CD-Spieler an: Bonjour, tristesse! Der beste Soundtrack zu meinem desolaten Zustand wäre jetzt wohl ein todtrauriges Adagio. Die todtraurigsten schrieb bekanntlich Gustav Mahler, aber leider schrieb er keine Sinfonie, die nur aus Adagios besteht. Doch da hilft Naxos: Die haben auf der CD Adagio Mahler gleich vier langsame Mahler-Sätze hintereinander gepackt, 59 abgründige Minuten. Dem Misterioso aus der nietzscheanischen Dritten mit dem Alt-Solo („Weh spricht: Vergeh!“) folgt direkt der mehr als 20-minütige „Poco Adagio“-Satz aus der Vierten. Dann das aufwühlende Adagietto aus der Fünften, bekannt durch Viscontis Tod in Venedig. Und obendrein noch das Andante aus der Sechsten, das auf dem vierten der Kindertotenlieder basiert. Eine geballte Ladung Anti-Weihnachtsmusik, in der das Verderben lauert, die nackte Verzweiflung: Bei Mahlers auffahrenden Geigen bekomme ich immer verlässlich Herzrasen. Aber sei’s drum! Fühlt sich die Depression wohl, freut sich der Mensch.
Das einzig Blöde an Mahler ist: die Länge. Denn ich bin ja an und für sich eher ein ungeduldiger Mensch. 20 kurze Mahler-Adagios hintereinander wären mir lieber. Auch eine Depression will schließlich unterhalten werden: Also schalte ich jetzt um aufs Kurzweil-Programm. Noch eine Flasche Valdepeñas (Gran Reserva) geköpft und rein in den Wahnsinn, wo er am wildesten tobt! Wie wäre es zum Beispiel mit Don’t Panic!, einer Versammlung von 60 Klavier-Miniaturen? Der klassische Pianist Guy Livingston hat dafür 60 Komponisten um je ein Ein-Minuten-Stück gebeten – und bekam Meditatives, Dadaistisches, Motorisches, Romantisches, Minimalistisches, Virtuoses, Atonales und Tänzerisches. Da gibt es ein Kükenballett von William Bolcom, ein Katzenstück von Ketzel Cotel, einen Saltarello von Giovanni Mancuso, einen Cowboy-Song von Charles Shadle, manches Ragtime-Ähnliche und diverse Walzer. Das alles im Minutentakt: Mahler könnte sich da eine Scheibe abschneiden! Vielleicht noch nie waren auf einer einzigen CD so viele Meisterwerke beisammen. Moritz Eggert liefert in seinen 60 Sekunden sogar gleich 60 „Stücke“ auf einmal, komplett mit Ansagen!
Könnte meine Gefühlswelt noch konfuser werden, so wäre sie es jetzt nach dieser fulminant-frivolen Klavier-Karussellfahrt. Besser nicht nachdenken, gleich weitermachen! Der britische Keyboarder Morgan Fisher hatte bei Miniatures nämlich eine ähnliche Idee wie Livingston. Angeregt von einer einminütigen Beethoven-Adaption des Folk-Musikers Pete Seeger(!), beauftragte Fisher 50 Künstler zwischen Neuer Musik, Rock, Jazz und Dada mit der Lieferung von 60-Sekunden-Häppchen. Robert Fripp (King Crimson) machte mit, Simon Jeffes (Penguin Cafe Orchestra), Fred Frith (Henry Cow), Robert Wyatt, Michael Nyman, die Residents, Lol Coxhill, Maggie Nicols … So eine Minute genügt für einen Love-Song (eine Strophe, zweimal Refrain), eine Gedicht-Rezitation oder die Erfindung einer Fantasie-Sprache. Es jagen einander: Konzentrate aus Wagner, Webern, Bartók, Mendelssohn, schräge Multitrack-Bläserminiaturen, experimentelle Coverversionen und schrille Collagen. Am Ende setzt Morgan Fisher eins drauf und bastelt aus all den Minutenbeiträgen noch einen allerletzten zusammen: „The Miniatures Miniature“. Danach ist mir richtig schwindlig. Liegt wohl an der handfesten Mischung aus Valdepeñas und musikalischem Sekunden-Irrsinn.
Jetzt ist eh schon alles egal. Gibt es noch eine Steigerung? Ja, die gibt es. 1999 initiierte ein Indie-Label die Compilation Short Music For Short People. Dafür bat man 101(!) Bands der kalifornischen Punk-Szene um einen jeweils 30-sekündigen Beitrag. Hier versagt die Vorstellungskraft, man muss das hören: 101 Hardcore-Punk-Rock-Metal-Miniaturen nacheinander! Und jedes dieser Kurzstücke bietet alles, was ein Punk-Song braucht: grölende Gitarren, donnernde Drums, wilde Vocals. 50 Minuten Lärm, Aggression und Tempo! Natürlich haben die Stücke sehr schöne, appetitliche und positive Titel wie „All Cops Are Bastards“, „The Radio Still Sucks“, „Farts Are Jazz To Assholes“, „Fishfuck“, „Dirty Needles“, „You Don’t Know Shit“, „30 Seconds Till The End Of The World“, „See Her Pee“, „I Hate Your Fucking Guts“ oder „Pimmel“. Unter den Bands sind immerhin recht bekannte wie Agnostic Front, Bad Religion oder The Offspring. Danach ist mir nicht mehr schwindlig, ich fühle mich vielmehr todkrank. Kann man von Depressionen eigentlich sterben? Ich glaube, nicht mal „Jingle Bells“ könnte mir jetzt noch etwas anhaben, selbst mit Kinderchor, Glockenspiel, Tamburin und Streichersirup.
Okay, ich habe es etwas übertrieben mit der Anti-Besinnlichkeit. Jetzt höre ich schon die Eigenschwingung der Luftmoleküle, Ehrenwort! Aber vielleicht helfen dagegen ein paar saubere Sinustöne. Ich greife also in mein Electronica-Department und finde: Synthesizer von gestern, Vol. 3. Diese hübsche Dokumentation menschlicher Erfindungsfreude versammelt Tonaufnahmen diverser Apparaturen aus den Häusern Roland, Yamaha, Oberheim, Korg, Sequential, Buchla und anderer. Sogar ein Mixturtrautonium ist vertreten, gespielt vom einzig wahren Mixturtrautoniumsvirtuosen Oskar Sala. Abgesehen von seinen Stücken wurden alle Nummern offenbar eigens für die CD komponiert – und das ist insofern faszinierend, als eben nicht die musikalische Absicht im Mittelpunkt steht, sondern das Klangvermögen der Synthesizer-Oldies. Die eher beiläufigen Ergebnisse reichen vom „Popcorn“-Verschnitt bis zur Rauschwellen-Caprice, von atonalem Fünfvierteltakt-Unterwasser-Techno bis zur esoterischen Telefonschleife. Wie der Komponist Claudius Brüse verrät, dient seine Etüde für den Yamaha TX 816/DX 7 sogar der Erforschung „labialer Gaumensegelbewegungen bei kybernetisch inaktiven Androiden“. Manchmal höre ich darin auch rotnasige Rentiere jodeln. Die Schaltkreise rappeln, bis sie heiser sind. Fast macht es mich glücklich.