Carl Nielsen – Ein Kind, das mit Dynamit spielt
2015 war das Jahr der skandinavischen 150er. Erst durften wir Jean Sibelius’ 150. Geburtstag feiern, dann war der dänische Komponist Carl Nielsen an der Reihe.
Auch wenn beide in erster Linie als Sinfoniker und weniger als Kammermusikkomponisten bekannt sind, so unterschieden sie sich doch grundsätzlich in ihrem kompositorischen Verständnis. Insofern zeigt sich wieder einmal die Unsinnigkeit, Komponisten nach ihrer Herkunft zu klassifizieren oder in diesem Fall gar von einer skandinavischen Schule zu sprechen.
Nielsen wurde als siebtes von zwölf Kindern geboren und wuchs auf der Insel Fünen auf. 1884 gelang die Aufnahme in die Komponistenklasse am Kopenhagener Konservatorium. Schon bald erfolgte eine ästhetische Abgrenzung von seinem Lehrer Niels Wilhelm Gade, der als Zeitgenosse Robert Schumanns zu sehr für die Klanglichkeit der deutschen Romantik stand.
„Ein Kind, das mit Dynamit spielt“, so urteilte ein Kritiker über Nielsens 1894 uraufgeführte Erste Sinfonie, so ungewohnt und unerwartet kamen die schwankende Harmonik und die rhythmisch vertrackten Finessen des nicht mal dreißigjährigen Komponisten ihm vor. Bereits hier ist eine musikalische Sprache zu vernehmen, die so gar nichts mit der deutschen oder auch französischen Romantik zu tun hat. Wenn es bei Nielsen einen Personalstil gibt, dann ist es das Überraschende und Unerwartete, das jede Sinfonie so eigen macht und den Komponisten in der Herbheit seiner Sprache auch bisweilen unzugänglich. Bis zu seiner Vierten Sinfonie geht es Nielsen immer um die Kategorien Energie und Lebensbejahung. Noch mit seiner Vierten versucht er in den Wirren des Ersten Weltkriegs, der auch im neutralen Dänemark seine Auswirkungen hatte, ein Monument des Lebens zu setzen, was den Untertitel Das Unauslöschliche erklärt, auch wenn extrem schroffe Gegensätze immer wieder auf die Gefährdung des Unauslöschlichen hinweisen. In den 1920er Jahren komponiert Nielsen noch zwei weitere Sinfonien, die unterschiedlicher nicht sein können und die sich beide auch deutlich von den Vorgängern absetzen. Die Fünfte Sinfonie mit einer verwirrend zweiteiligen Struktur und einer eigenwilligen Instrumentation – man denke nur an das herausgehobene Duett zwischen kleiner Trommel und Klarinette (das er später wieder in seinem Klarinettenkonzert aufnehmen wird) – ist sein „modernstes“ und bis dato experimentellstes Werk. Seine Sechste Sinfonie trägt den verwirrenden Titel Semplice, doch einfach ist nur die oberflächliche Erscheinung mit ihrer fast neoklassizistischen Architektur. Dahinter verbergen sich diverse Grotesken, die so manche spätere Ironie Schostakowitschs bereits vorwegnehmen.
Komponistenjubiläen bringen es mit sich, dass eine Vielzahl an Neueinspielungen produziert oder Reissues veröffentlicht werden. Für Nielsen heißt dies, dass wir auf drei aktuelle Gesamtaufnahmen zurückgreifen können, die alle uneingeschränkt zu empfehlen sind. So hat sich kurz vor seinem Tod noch Colin Davis erstmals mit Nielsen beschäftigt und zusammen mit dem London Symphony Orchestra (LSOlive) klangherbe und zugleich differenzierende Liveaufnahmen produziert. Alan Gilbert und die New Yorker Philharmoniker (DaCapo) setzen sich hiervon mit einem breiteren Tonfall ab, während Sakari Oramo und die Stockholmer Philharmoniker (BIS) ganz auf das Kontrastive und Expansive der Sinfonien setzen. Den Vinylisten sei an dieser Stelle die Einspielung Leonard Bernsteins (CBS) empfohlen, der als einer der Ersten in den 1960er Jahren Nielsen einem breiteren Schallplattenpublikum zuführte. Als Klassiker kann auch Herbert von Karajans Aufnahme der Vierten Symphonie (DGG) gelten, die zeigt, dass Karajan sehr wohl einen Blick auch auf das Randständige hatte. Nutzen Sie also die Gelegenheit und erweitern Sie Ihr sinfonisches Repertoire, zumal die neuesten Einspielungen sich hervorragend zum Austesten der heimischen Musikanlage eignen. Mein Tipp: Gönnen Sie Ihren Lautsprechern doch mal das Pauken-Duell im Finale der Vierten Sinfonie.