Jazzidelity: Paul Giallorenzo’s Gitgo – Emergent
Fröhlich, holprig, schrill
Der freie Jazz der sechziger Jahre hat viel bewegt. Er erfand flexible, unberechenbare Formen, sprengte die harmonische Konvention, beflügelte die melodische Fantasie, befeuerte die Expressivität und emanzipierte das Kollektiv. Im Grunde erneuerte er damit nur Tugenden, die der Jazz in seinen Anfängen schon einmal besessen hatte. Doch im Yuppie-Klassizismus der neunziger Jahre geriet vieles davon erneut in Vergessenheit. Denn Schönklang und Expressivität passen nicht so recht zusammen, auch nicht Präzision und Kollektiv, Mainstream und Sprengung. Umso erfreulicher, dass es die sperrige Chicago-Szene gibt und eine Band wie Gitgo. Eine Band, die unbändig swingt und doch die Holprigkeit und Aufmüpfigkeit des freien Jazz nicht ganz vergessen hat. Diese fünf swingen nicht nur, sie bouncen!
Die wildesten Soli steuert der Saxophon-Veteran Mars Williams bei: Wenn er loslegt, bricht der Swing schon mal ab und öffnet sich zu einem offenen, kinetischen Rubato. Besonders am Sopransax sorgt Williams für schrille Extreme. Der andere Bläser, Posaunist Jeb Bishop, liefert dazu reizvolle Gegensätze, am frappierendsten im Eröffnungsstück „On Your Marks“: Da antwortet Bishop auf Williams’ Ausbrüche mit einem ironisch-fröhlichen Wah-Wah-Solo fast in Dixieland-Manier. Beide Bläser kennt man natürlich aus dem Umkreis des Chicago-Stars Ken Vandermark. Und dann ist da auch noch der Bandleader Paul Giallorenzo, ein souveräner Freigeist an den Piano-Tasten, der aus der kantigen, knotigen Ästhetik eines Thelonious Monk oder Andrew Hill ganz neue Funken schlägt. Und das immer mit Swing oder – wie es in den Liner Notes heißt – mit diesem anarchischen „Mal-Waldron-Bounce“.
Für das Album Emergent hat Giallorenzo alle acht Stücke geschrieben: Stücke mit archetypischen, prägnanten Themen, manchmal schwankenden Tempi, entfesselten Kollektiven und immer wieder fröhlichen Anachronismen. „Spatialist“ zum Beispiel, für den 2010 verstorbenen Chicago-Helden Fred Anderson, wirkt fast wie eine moderne New-Orleans-Function: Das Stück beginnt mit einer Out-of-tempo-Hymne und durchläuft dann alle möglichen Tempi und Stimmungen. „The Swinger“ – mit Schmalz-Posaune und Growl-Sax – scheint sogar die Swing-Ära neu entdecken zu wollen. Da wird überdeutlich, was im Jazz-Klassizismus der neunziger Jahre alles in Vergessenheit geraten ist: auch das Abenteurertum, die musikantische Lust, der Humor.