Klangvolles Klassik-Vinyl
Die Klangqualität von Tonkonserven ist ein Mysterium. Dass auf nichts Verlass ist, weiß ich spätestens seit ich die kommerzielle, bei einem renommierten Kleinlabel erschienene CD-Version einer von einem befreundeten Tonmeister produzierten Aufnahme mit dessen von seinem Master selbst gebrannten CD-ROM im Vergleich gehört habe. Wie unter Valium tönte die gepresste Silberscheibe, betörend luftig und frei dagegen das Original. Jetzt glaube ich keinen Versprechungen mehr. Das Aufnahmeverfahren ist mir wurscht, die beteiligten Tonmeister ebenso, der Ort, die Musiker, das Label – ab in den Player oder auf den Plattenteller, und dann: Überrascht mich!
Altgedienten Schallplattensammlern muss man das nicht erklären. Die erkennen an den in die Zwischenräume der Auslaufrille eingeritzten und gestempelten Kürzeln genau, was sie erwartet. An diese Spezialisten wende ich mich mit meinen Fragen: Warum klingen zwei vom selben Orchester unter demselben Dirigenten im selben Saal für dasselbe Label aufgenommene Platten unterschiedlich? Warum war ein im Grunde unbedeutendes Orchester aus der Schweiz der Plattenstar der 1960er Jahre? Und warum fehlt einer hypermodernen audiophilen Pressung vom allerfeinsten hochauflösenden Digital-Master die Seele?
Bringen wir das Unerfreuliche hinter uns. Das norwegische Label 2L hat sich einen Namen mit audiophilen, mehrfach Grammy-dekorierten Digital-Aufnahmen gemacht. Mit Aufnahmen des Streichorchesters Trondheim Solistene (Souvenir part I/part II), wie üblich im DXD-Format aufgezeichnet, hat sich 2L nun in bis dato unbekannte Vinyl-Gefilde vorgewagt. Mit deutscher Hilfe: Das auf Analog zurückgewandelte Musiksignal wurde von Hendrik Pauler für den DMM-Master-Schneidvorgang aufbereitet, die Pressung erfolgte bei Pallas in Diepholz. Das Resultat vermag nicht zu überzeugen. Bei höchster Signalreinheit und Auflösung des Streicherklangs fehlt es schlicht an Wärme. Die Trondheimer Solisten bewältigen die Werke von Tschaikowski und Nielsen mühelos, ihnen lässt sich kein Vorwurf machen. Im Gegenteil, man möchte mit ihnen am Aufnahmeort gewesen sein, einer kleinen Kirche, um zu hören, woher dieser stählerne Streicherklang herrührt. War der Raum zu klein und die Kirchenmauern zu glatt und hart? Lag es an der Wahl der Mikrofone, deren Platzierung? Immerhin: Die heimische Anlage lässt sich mit diesen perfekten Pressungen sicher an ihre Auflösungsgrenzen führen.
Fürs Sentiment greifen wir lieber ins Reissue-Fach, das Speakers Corner in schöner Zuverlässigkeit mit Wiederauflagen aus dem Decca-Katalog auffüllt. Und siehe da, es gibt Fulminantes zu entdecken! Den Preis für die unterhaltsamste Klassik-LP des Monats erhält SXL 2037 – die L‘Arlésienne- und Carmen-Suiten von Bizet in einer Aufnahme mit dem Orchester de la Suisse Romande unter Ernest Ansermet. Für die schon erwähnten Alt-Vinyl-Spezis ein alter Hut, für die Jüngeren dagegen hier der Tipp: Kaufen, denn die Aufnahme ist legendär, und das zu Recht. Die Dynamik, die Klangfarben, die Spielfreude – ein Traum. Schade, dass das Bandrauschen so deutlich hörbar ist, hätte man es allerdings weggefiltert, wären auch die Luft und die Brillanz beim Teufel, die diese Platte zu dem gesuchten Knaller machen, der sie insbesondere im raren Original ist.
Interessanterweise klingt das gleiche Orchester unter dem gleichen Dirigenten, ebenfalls im Genfer Victoria-Saal aufgenommen, in einer nur drei Jahre jüngeren (1961) Aufnahme ganz anders. Man möchte fast sagen: moderner, glatter, ausgewogener. Es mag am russischen Programm (Prokofjew, Glinka, Borodin) von SXL 2292 liegen – vermutlich hat man einige Streicherpulte mehr für die groß orchestrierten romantischen Werke aufgeboten. Das Orchester der romanischen, ergo französischen Schweiz ist hier in Höchstform zu erleben. Und der Sound der Nachpressung? Eine Wucht. Zugreifen!
So tapfer sich die Eidgenossen schlagen, am London Symphony Orchestra kommen sie nicht vorbei. Auf SXL 6044 ist es unter der Leitung von István Kertész mit der Achten Symphonie von Antonín Dvorák zu erleben. Zwischen der populären Neunten mit dem hilfreichen Untertitel „Aus der Neuen Welt“ und der nicht weniger eingängigen, energiegeladenen Siebten ist die Nummer acht der Geheimtipp für alle Liebhaber des melodieseligen großorchestralen Schaffens des genialen Böhmen. Die Aufnahme mit dem LSO fand in der legendären Kingsway Hall in London statt, und an deren opulentem Raumklang dürften sich heutige, von digitalen Raumklangprozessoren geschundene Ohren kaum satthören können.
Und der Tipp zum Schluss? Klavier. Die Analog-Spezialisten von Clearaudio wühlen regelmäßig im Katalog der Deutschen Grammophon und haben dort auch die Einspielung der 24 Préludes von Frédéric Chopin mit Martha Argerich ans Tageslicht befördert (DG 2530 721). Wer es liebt, vermeintlich Bekanntes neu zu erleben, den wird Argerichs einerseits betont freies, gleichzeitig aber ungemein resolutes und unzweideutiges Spiel unweigerlich in den Bann ziehen. Hypnotisch!