Mixtape deluxe: „Half awake in a fake empire“
Wenn aus einem Roadtrip eine Reise wird
Das Mixtape: eine selbsterstellte Zusammenstellung von Songs, in einer bestimmten Reihenfolge auf einer Audiokassette aufgenommen; wird im Allgemeinen verwendet für den privaten Gebrauch, als Soundtrack zu gesellschaftlichen Anlässen oder als Geschenk; laut Essayist Geoffrey O’Brien „die am häufigsten ausgeübte amerikanische Kunstform“ …
Das ist es, was Wikipedia unter anderem zu sagen hat, wenn man hier den Suchbegriff „Mixtape“ eingibt, und Wikipedia hat damit nicht ganz unrecht. Ich persönlich bin ein Fan von Mixtapes, ganz gleich, in welcher Form man diese heutzutage darreicht – ob als CD, auf einem Memorystick oder online als Streamable Link. Das Ergebnis bleibt dasselbe, eine persönliche Zusammenstellung von Audiowerken, die sich ganz hervorragend eignet, um entweder Momente akustisch festzuhalten, Stimmungen heraufzubeschwören oder Botschaften zu vermitteln. Ich habe schon ganze Tage damit zugebracht, erhaltene Mixtapes auf potenzielle Nachrichten hin zu untersuchen und zu Tode zu analysieren, aber auch damit, selbst das perfekte Tape zu komponieren. Für verschiedenste Anlässe. Darunter Dinners & Parties, Liebeleien & Schlussmachereien, Geburtstags- & Weihnachtsgeschenke und vor allen Dingen Reisen & Roadtrips.
Insbesondere zu den Roadtrips gehört das Mixtape meines Erachtens wie das „i“ zu Apple. Ich bin generell höchst selten musiklos unterwegs, aber mein Auto ist der Ort, an dem ausnahmslos immer Musik läuft. Auch neue Alben lassen sich in dieser Kombination aus geschlossenem Raum und Vorwärtsbewegung aus irgendeinem Grund besonders gut hören. Vielleicht gehe ich deshalb so gerne auf Roadtrips. Für mich „Moments of Pleasure“, für die ich mit großer Leidenschaft passende Mixtapes erstelle.
Kürzlich war es wieder so weit. Ein Trip in die Heimat stand an, und so hieß es, die 600 Kilometer zwischen Venedig und München sowie bestenfalls fünf Stunden mit Musik zu füllen. Denn wer schon einmal italienisches Radio gehört hat, der weiß, dass das gar nicht geht – außer man möchte partout erschlagen werden von Schmalz und Pathos. Und so machte ich mich also in Vorbereitung auf meinen Trip ans Mixen.
Die Aufgabe: ganz klar, zwei Tapes. Eines für die Hinreise am frühesten Morgen, ein weiteres für die Rückreise am späten Abend über Nacht. Das Beste an Trip Tapes ist die Tatsache, dass man weder möglichst elegant eine latente, aber dennoch evidente Botschaft einbauen muss, noch muss man sich allzu intensiv über Übergänge und sonstige Qualitätsmerkmale Gedanken machen. Diese Form des Mixtapes muss nichts weiter, als das Radio ersetzen und einen musikalisch von A nach B tragen, auch wenn es natürlich mehr kann.
Was die Auswahl der Songs betrifft, gehe ich bei egoadressierten Tapes ganz unterschiedlich vor. In diesem Fall führte der Zweck Regie und ich entschied mich für mir bekanntes Material, das mit der einen oder anderen Erinnerung verbunden ist. Als zweifache Auswanderin ist mir die Nostalgie eine ständige Begleiterin und die Musik ist ein ganz starker Erinnerungsträger für mich, der jedes Fotoalbum in den Schatten stellt. Als Erstes hieß es Tracks zusammenstellen, die sich mit den frühen Morgenstunden vereinbaren ließen. Leicht und luftig sollte es sein. Quasi das Pendant zu einem Kaffee, den man nach einer ausgeschlafenen Nacht eigentlich nicht braucht. Das zweite Tape dagegen sollte eher das Red Bull mit einem Paar Extraflügeln werden, um mich vor dem Einnicken am Steuer zu bewahren (mehr dazu in der nächsten FIDELITY).
Und so stieg ich also an einem Sonntagmorgen um fünf Uhr früh, bewaffnet mit zwei CDs in Veneto ins Auto, um mich von folgender Kompilation mit der Aufschrift Mellow Morning und Koffein in den Adern wachrütteln zu lassen.
Van Morrison: „T. B. Sheets“ (Blowin’ Your Mind!)
Was für ein episches Werk, dieser musikalische Eröffner. Ein bluesiger, etwas anstrengender Song-Gesell, der mich immer wieder aufs Neue einfängt und gefangen nimmt. Und das, obwohl ich im Allgemeinen keinen wirklichen Gefallen an Van Morrison finden kann. In diesem Stück singt er über ein an Tuberkulose erkranktes Mädchen, auf eine erstaunlich fesselnde Art und Weise, völlig versunken in dem Thema, beinahe obsessiv. Wenn er beispielsweise bei „let me breath“ voller Ekel ins Mikrofon schnüffelt, meint man fast, Van hätte beim Einsingen wirklich das Krankenzimmer riechen können. Großer Song, langer Song, und mein sanfter, aber packender Auftakt für mein „Mellow Tape“.
Cold War Kids: „Saint John“ (Robbers & Cowards)
Als musikalische und thematische Überleitung ins Hier und Jetzt kann nur dieser Song (einer meiner Lieblingssongs einer meiner Lieblingsbands) stehen. Auch er berichtet von Old Saint John on Death Row, der im Todestrakt auf die Hinrichtung wartet. Der Song endet völlig unvermittelt mitten im Takt. Man kann die Schlinge quasi zuschnappen hören. Ich halte immer unwillkürlich den Atem an, gerate ins Grübeln über Old Saint John und seine Leidensgenossen.
Absynthe Minded: „To The Boredom Dying Slowly“ (New Day)
Spätestens jetzt muss das Koffein im Blut sein, der Motor warm und meine Sinne beisammen. Guten Morgen, Golbov. Schön mitreißender Song einer großartigen Band aus Belgien, denen man das Belgischsein dank vielfältiger Stileinflüsse gar nicht anhört.
Teitur: „Hitchhiker“ (Stay Under The Stars)
Ein lustiger kleiner Track, der sich langsam zu einem sexy Pfau entwickelt. Der Interpret ist Teitur, ein komischer Färöer. Er spielt die Gitarre mitunter mit dem Geigenbogen, hat den Schalk im Nacken und schreibt Lieder, die von Folk über Pop bis hin zum üblen Schlager alles ankratzen. Ich habe ihn vor einigen Jahren live in München gesehen und ging überrascht, beeindruckt und top unterhalten wieder nach Hause. Ein unvergessliches Konzert. Vor allen Dingen den Humor, der in einem seltsamen Widerspruch zu den etwas kitschigen Singer-Songwriter-Kompositionen steht, hätte ich diesem Insel-Teitur nicht zugetraut. (M)ein Roadtrip-Muss!
Beirut: „Elephant Gun“ (Elephant Gun, EP)
“If I was young, I’d flee this town …” Vor meiner Auswanderung nach London lief dieser Song in Dauerschleife, und noch heute kriecht mir das Fernweh den Rücken hoch, wenn ich diesen Track vom irrsinnig sensiblen musikalischen Wunderkind Zach Condon aus New Mexiko höre. Der Sechsachteltakt lässt Bläser und Akkordeon miteinander Walzer tanzen und kreiert eindeutig die Art von Luftigkeit, die ein italienischer Morgen auf der Autobahn braucht.
The Brian Jonestown Massacre: „(David Bowie I Love You) Since“ (Take It From The Man!)
Zeitlos. The BJM. Die Band mit der wohl höchsten Mitgliederfluktuation. Neo-psychedelisch ungeschlagen. Ein wunderbar träger Song, der das Akkordeon aus dem Vorgängertrack mitnimmt, um sanft die Brücke zu schlagen zum nächsten Song.
The Cave Singers: „Clever Creatures“ (No Witch)
Meine persönliche Nr. 1 aus dem Jahr 2011. So klingt’s, wenn gute Lyrics, Rhythmus und Musik einen vollendeten Song schaffen. Schwer, sich für einen Track zu entscheiden, denn das gesamte Album No Witch hat es in sich. Es wurde „Clever Creatures“, weil sie mich an einen Londoner erinnern, der mir diesen Song letztes Jahr auf ein Mixtape gepackt hat – womit wir wieder beim Thema Emigrationsnostalgie wären.
Modest Mouse: „Bury Me With It“ (Good News for People Who Love Bad News)
Die Lyrics kann ich auswendig. “But if my free time’s gone would you promise me this that you will please bury me with it.” Aber auch hier werden alte Zeiten heraufbeschworen. Der Track erinnert mich an meinen letzten deutschen Sommer, Festival-Momente, Johnny Marr, der Modest Mouse auf dieser Tour begleitete, einen hitzigen Isaac Brock, der auf der Bühne sogar von weiter weg beinahe gefährlich aussieht. Schon der Albumtitel lässt ahnen: ernsthaft kreativer Typ am Werk.
The White Stripes: „Jolene“ (Under Great White Northern Lights; live)
Ich kann Cover eigentlich nicht leiden. Eigentlich. Aber Jack White schon. Egal in welcher Formation. Und ganz verlässlich macht er auch aus „Jolene“ ein Stück, das ich immer wieder hören will. Schön dreckig, schön daneben. Und es macht ja auch gar keinen Sinn aus einem männlichen Mund. Dadaismus in seiner schönsten Form. Bulls Eye. Ein Roadtrip-Muss.
Two Gallants: „Willie“ (The Bloom And The Blight)
Dieser Song ist drauf, weil ich beim ersten Durchhören des neuen und sehr vielversprechenden Albums der beiden Jungs aus San Francisco ganz ordentlich Lust bekam herumzuhüpfen. Ich habe das Gefühl, The Bloom And The Blight könnte mein Album des Sommers werden. Außerdem muss ich bei der Band immer an die Geschichten meiner besten Freundin denken, die befreundet ist mit den Kavalieren und nicht nur Rock ’n’ Roll im Blut hat, sondern auch ein Talent, tolle Sachen – einschließlich Musik, Menschen und Stories – auf der Straße zu finden.
Kings of Leon: „Slow Night, So Long“ (Aha Shake Heartbreak)
Kings of Leon galten einst als vielversprechende Band auf dem zeitgenössischen Rock-’n’-Roll-Markt. Die ersten drei Alben waren schlicht fantastisch. Und dann kam der Wunsch nach großem Ruhm und großer musikalischer Bullshit in Folge. Schade, aber danke für drei der eindeutig besten Rock-’n’-Roll-Alben der letzten Jahre. Persönlich lässt dieser Song einen Roadtrip in die italienischen Marken mit oben genannter Freundin wieder aufleben, der gefühlte Ewigkeiten und mindestens fünf Jahre her ist: ein alter VW Golf, offene Fenster, Nasen im Wind, die eine oder andere Zigarette, Elvis-Coverband und auf die Dorfkirche projizierte Elvis-Filme beim Festa della Cipolla und ganz viel Dolce Vita.
The Dandy Warhols: „Boys Better“ (The Dandy Warhols Come Down)
Ein Wachmacher von den Warhols zwischendurch. Ein Allzweck-„Kick-Ass“-Song.
David Holmes: „I Heard Wonders“ (The Holy Pictures)
Dieser nette Song von David Holmes gehört zu meinem England-Soundtrack. Bei ersten wackeligen Fahrversuchen auf der falschen Seite diente er mir als Mutspritze. Auch bei der olympischen Eröffnungszeremonie in London wurde er gespielt, wobei er sich schon weitaus länger auf meinem iPod befindet. Ein Song zum Runterkommen von den Saiten und ein Hinlenken zu etwas tastenlastigeren Geschichten.
Jack White: „Weep Themselves To Sleep“ (Blunderbuss)
Und noch ein Jack White. Langsam scheint er durch, der weiße Faden. Dieses Mal mit einem Track von seinem ersten Solowerk, das mich überzeugt hat als entspanntes Album, das dieses unglaublich authentische und explosiv-expressive Talent von Herrn White bestens eingefangen hat. Und gleichzeitig ist dieser Song derjenige, mit dem meine Kollegen in London ihr Abschiedsvideo für mich hinterlegten. Also wie mein gesamtes Tape willkürlich nostalgisch vorbelastet.
Holy Fuck: „Stay Lit“ (Latin)
Dieser Song ist meine Morgenportion „Holy Fuck“. Das kanadische Duo stellt meine absoluten Helden und hängt in Form eines Posters über meinem Schreibtisch. Elektronischer Rock ’n’ Roll der Extraklasse. Das geht direkt ins Golbov’sche Ohr & Herz. Wenn Brian Borcherdt, der solo indiemäßig unterwegs ist, und Graham Walsh live an ihren Keyboards wippen und um ihre Effekt-Tools herumspringen – im wahrsten Sinne des Wortes –, bin ich auf der Stelle sehr verliebt. Echter Rock and Roll, der sich die Elektronik und teils absurde tonerzeugende Objekte als Instrumente zunutze macht. Keine Samples vom Laptop, alles live. Leider wird das Gespann wohl in Zukunft seltener zu sehen sein, da Brian sich seinem Soloprojekt „Dusted“ widmet. Ein Schlag in die Magengrube eines Fans.
Modeselektor & Thom Yorke: „This“, Instrumental Version (Monkeytown, Deluxe Tour Edition)
Nach so viel Gefühl braucht die fortschreitende Morgenstunde etwas Surreales wie beispielsweise Modeselektor und Radioheads Thom Yorke in symbiotischer Zusammenarbeit. Ein klanglich klaustrophobisches Werk, das den lieblichen Vorgänger rasant abfängt und mich an David Lynch denken lässt. Schöner Gegensatz zur norditalienischen Szenerie.
Oliver Koletzki & Mieze Katz: „This Is Leisure“ (Großstadtmärchen)
Koletzki und die Frontfrau von Mia (eine Band, mit der ich gar nichts am Hut habe) liefern hier meinen persönlichen Feierabend-Song. Unzählige Male gehört, in London auf dem Fahrrad auf dem Weg vom Büro in Covent Garden in den Feierabend. Mit diesem Track ließ es sich ganz besonders gut durch die roten Busse hindurchschlängeln. This is leisure – pur. Auch auf der Autobahn.
The Gadsdens: „The Sailor Song“ (The Sailor Song)
Raus aus der Hauptstadt, zurück in die Stadt an der Themse mit ein bisschen Außenseiter-Pop. Es war ein grauer Sonntag in London im Jahr 2010, als ich mich aufmachte in einen der schäbigen Clubs im East, um mir dort ein paar „Local Bands“ anzuhören – für geschlagene drei Pfund Admission Fee. Die Überraschung des Abends: The Gadsdens. Die Gadsdens heißen heute „Autoheart“, ziehen den Release ihres Debütalbums weitaus zu intensiv in die Länge und sehen aus wie eine klassische Brit-Pop-Band. Also cool. Stylish. Doch wenn Jody Gadsden, der Lead-Sänger, seinen Mund aufmacht, passiert etwas Komisches. Dann wird aus dem übercoolen Brit-Popper in zu engen und zu kurzen Hosen ganz schnell ein etwas unsicherer Chorknabe, dessen himmlische Stimme treffsicher die Tonleiter hinauf- und hinabphrasiert. So etwas habe ich noch nie gehört. Und ich bin mir sicher, dass mit dem Debütalbum der große Erfolg kommt. Idealer Autosong, denn so kommt bei meinem Versuch mitzuphrasieren niemand um.
The National: „Fake Empire“ (Boxer)
Mein absoluter All-Time-Favourite. Der perfekte Tag beginnt mit diesem Song und fühlt sich an wie dieser Song. Put a little something in our lemonade … Half awake in a fake empire …
… und mit dem Nachhall dieses letzten Titels möchte ich diesen Artikel auch gerne schließen. Mein Tape hat seinen Zweck erfüllt, hat mich begleitet auf meinem Roadtrip, hat mich abgelenkt von den abzufahrenden Kilometern und mich an Geschichten und Menschen erinnert. Und es hat weitere Erinnerungen geprägt: an meinen München-Trip sowie die dazugehörigen Geschichten. Nächstes Mal werde ich Big Fat Night mitbringen, mein nächtliches Mixtape-Pendant, das naturgemäß ganz andere Töne spuckt. Bis dahin verweile ich ein wenig in meinem „Fake Empire“. Und jetzt, let’s „turn the light out, say Goodnight, no thinking for a little while.“