Rockidelity: Chuck Berry – Rock And Roll Music Any Old Way You Choose It – The Complete Studio Recordings … Plus!
Elvis Presley hatte den Hüftschwung, Bill Haley die Tolle, beide waren sie großartige Entertainer und Wegbereiter des Popstartums. Chuck Berry, bürgerlich Charles Edward Anderson Berry, indes hat noch einen draufgelegt: Er war Sänger, Entertainer und gab der elektrifizierten Gitarre eine unüberhörbare Stimme, weg vom tristen Hintergrund-Akkordgeschrammel hin zum lautstarken Führungsinstrument.
Wo sich Elvis noch durch das filigrane Travispicking eines Scotty Moore unterstützen ließ, nahm Chuck Berry die Dinge sprichwörtlich selbst in die Hand. Die raubeinigen Boogieriffs und die scharfkantigen Soloeinwürfe aus seiner Gibson ES-335 stellen gewissermaßen die spieltechnische DNA für die weitere Entwicklung der Rockgitarre dar.
Welches Label hätte besser dafür in Frage kommen können, dem Rock’n’Roll-Übervater zu huldigen, als Bear Family Records? Das kleine Qualitätslabel aus dem hohen Norden veröffentlicht vornehmlich liebevoll kompilierte und aufwendig gestaltete Boxen und Kollektionen. Nahezu auf den Tag pünktlich zu Chuck Berrys 88. Geburtstag wurde Ende Oktober die Box Rock And Roll Music Any Old Way You Choose It mit 16 CDs und zwei Büchern veröffentlicht. Hier finden sich alle geschichtsträchtigen Evergreens wieder, denen auch ich als Jugendlicher erlegen bin: Von der ersten Single „Maybellene“, über „Rock’n’Roll Music“, das von Gott und der Welt gecovert wurde, bis hin zum unverwüstlichen „Johnny B. Goode“. Spannend wird es bei den Perlen, die auf den gängigen Chuck-Berry-Kollektionen nicht zu hören sind, so etwa die Demo-Aufnahmen von „Sweet Little Sixteen“ und „Rock’n’Roll Music“, aber auch Berrys Interpretationen solcher Klassiker wie „How High The Moon“, „Route 66“ und „Worried Life Blues“. Sehr aufschlussreich auch die zwei im Studio festgehaltenen Jamsessions – sowohl beim Slow Blues als auch im treibenden Boogie über jeweils gut elf (!) Minuten lässt Berry seinem kongenialen Klavierpartner Johnnie Johnson generös die längeren Solostrecken absolvieren. Ein Rock’n’Roll-Raubein mit Teamplayer-Qualitäten!
Mögen diese Aufnahmen, speziell die enthaltenen Live-Aufnahmen, nicht den höchsten audiophilen Ansprüchen genügen, haben sie doch vor allem eins: Charme. Dazu kommt ein gewisses Mojo, dem man sich nicht entziehen kann – es scheint, als habe das damalige Aufnehmen auf analoges Magnetband einen Hauch von Retro-Patina über die Songs gelegt. Mit einer adäquaten Abhöre tönt es immer noch erstaunlich spritzig und plastisch aufgestellt.
Bear Family Records
16 CDs + 2 Bücher
Eine Sache allerdings hätte sich bestimmt besser lösen lassen: Die Tracklists der CDs in einem der Bücher nachlesen zu müssen, ist schon recht gewöhnungsbedürftig. Bei 396 Einzeltiteln artet das Nachschlagen eines bestimmten Songs fast in investigative Recherche aus. Well, that’s Rock’n’Roll – rau, ungeschliffen und nicht immer ganz perfekt.
Für Berry-Fans ist die Anschaffung dieser Luxus-Box wohl obligatorisch. Und wer an den geschichtlichen Wurzeln der Popkultur ernsthaft interessiert ist, dem bietet sich hier eine beeindruckende Zeitreise in Form von raren Bild- und Tondokumenten zu einem der ganz Großen im Rock’n’Roll-Zirkus. Nach dem Durchhören dieser opulenten Sammlung kann ich John Lennon nur zustimmen, der weiland konstatierte: “Sollten Sie nach einem anderen Namen für Rock’n’Roll suchen, Sie könnten ihn auch Chuck Berry nennen.”
