Album-Doppel: Frank Sinatra und Tom Waits
Sein Chef Tommy Dorsey nannte ihn einmal „ein mageres Kerlchen mit abstehenden Ohren“.
Wahrscheinlich hat er Frank Sinatra nicht recht ernst genommen. Sinatra war schlauer: Er schaute sich beim Posaunisten Dorsey wichtige Atem- und Phrasierungstechniken ab, wurde zum Lieblingssänger von Jazzgrößen wie Duke Ellington und Miles Davis und mehrfach als Jazzsänger ausgezeichnet, obwohl er gar keiner sein wollte. Die Mädels fielen reihenweise in Ohnmacht, wenn der schmale Italo-Amerikaner mit den blauen Augen die Bühne betrat. Denn Sinatra spielte seine Rolle gut: den vom Leben Gebeutelten, unter dessen hart gewordener Schale noch ein weicher, leidender Kern steckt. Er war eine Symbolfigur: Macho-Romantik, Nachkriegszeit, Existenzialismus. Der Trenchcoat verrutscht, das Selbstbewusstsein ramponiert, aber da ist noch etwas wie ein fragmentarisches Innenleben, zumindest die Erinnerung an verlorene Illusionen. Verzweiflung im modernen Stil.
Genau so zeigt ihn dieses Albumcover: beschädigt, abgehärmt, müde, seelenwund, aber zu Restgefühlen fähig. Kragen und Krawatte sind gelockert, der Hut ein Stück nach hinten geschoben, die vorletzte Zigarette steckt in der Hand. Es ist der früheste Morgen, die „winzig kleinen Stunden“ kurz nach Mitternacht. Der Titelsong wurde extra für dieses Album geschrieben und stieg zum Jazzstandard auf, noch bevor es recht hell wurde draußen. Um Sinatra herum: die menschenleere Stadtwelt. Ein kaltes Türkisblau, ein trübes künstliches Licht, eine Mischung aus Gotham City und Kubismus. Es geht um dieses eine, dieses leidende Ich, einsam in einsamer Nacht. Einer, der stärker sein will als sein Schmerz. Nach außen kühl, sucht er Zuflucht in stillem Zynismus. Ich fühle mich ganz wohl, wenn ich unglücklich bin, behauptet er: “Glad To Be Unhappy”. Ich komme ganz gut allein zurecht: “I Get Along Without You Very Well”. Wir können ja Freunde bleiben: “Can’t We Be Friends?”
Die Platte von 1955 gilt als das erste Konzeptalbum der Musikgeschichte. Sie ist auf jeden Fall eines der einseitigsten und traurigsten Konzeptalben aller Zeiten. In jedem Song dieselbe Leier: Liebesverlust, Einsamkeit, Traurigsein – aber nur kein Selbstmitleid! Sinatra musste sich dabei offenbar nicht sehr anstrengen. Seine glücklose Ehe mit dem Filmstar Ava Gardner ging damals durch alle Zeitungen. Angeblich wurden sämtliche Songs des Albums tatsächlich in den frühen Morgenstunden aufgenommen, den Stunden der nackten Melancholie. Eine ganz eigene Verletzlichkeit hat Sinatra in den hohen Tönen, er singt den weißen Blues, ohne den schwarzen nachzuahmen. 16 langsame Stücke, viele traurige Streicher, eine körperlose Celesta. Die Kritiker nennen das: „emotionale Konsistenz“. Heute klingt die Musikbegleitung ziemlich vorgestrig, wie aus einem alten Film. Dagegen die Stimme: wach, sensibel, ganz im Jetzt. Sinatra war damals 40.
Tom Waits war erst 25, als er sein zweites Album aufnahm. Es verlegt die Melancholie ein paar Stunden nach vorne: in den späten Abend, genauer gesagt: in die Samstagnacht. Tom Waits ist auch nicht allein, wenn er melancholisch wird. Er ist unter Leuten, in Bars, oder unterwegs, im Auto. Die Idee mit dem Album-Gemälde nach großem Vorbild hatte Cal Schenkel, der oft mit Zappa arbeitete. Viele Anknüpfungen ans Sinatra-Cover stecken im Bild: Zigarette, offener Kragen, gelockerte Krawatte, Sakko, Kopfbedeckung, das trübe künstliche Licht. Sogar die Straße nimmt dieselbe Richtung. Aber Tom Waits’ Welt von 1974 ist belebt. Da sind Lichtreklamen, Autos, andere Menschen – vor allem die Blondine im schulterfreien Abendkleid. Diese Nacht ist nicht kalt, wir sind vermutlich in L.A. Die Traurigkeit ist ebenfalls eine andere, eine laute, aufgekratzte, beschäftigte, wortreiche. Eine vielfach betäubte Traurigkeit.
Auch Tom Waits spielt seine Rolle gut: die des Spät-Hipsters, des gestrandeten Beatniks. Es ist die Rolle, in der er sich zu Beginn seiner Karriere dauerhaft inszeniert hat. Das Titelstück des Albums soll Jack Kerouac gewidmet sein, dem jazz- und wortverrückten Beat-Dichter. Waits’ Musik hier hat viel Jazz, Blues und Piano, dazwischen aber auch diese weinerliche amerikanische Folk- und Country-Sentimentalität, diese Alte-Säufer-Stimmung. In der Siebzigerjahre-Melancholie spielt Whisky eine wichtige Rolle. Whisky und Geschwätz. Alle elf Stücke hat Tom Waits selbst geschrieben, er spielt das Klavier und die Gitarre, singt und rezitiert. Aus seinen Songs spricht die Samstagabend-Ödnis der ganzen Straße, der ganzen Stadt, der ganzen angeschwemmten Kleine-Leute-Szene, der Truckfahrer, Kellnerinnen und Matrosen. Ins Gespräch kommt man schnell, aber die Gefühle brauchen etwas Hochprozentiges zum Anwärmen, man glaubt es ihm. Irgendwo in dieser überdrehten, banalen, frustrierten Leere versteckt sich vielleicht ein bedeutsamer Kern. Die Suche danach treibt uns weiter. “You’re looking for the heart of Saturday night.”
Frank Sinatra: In The Wee Small Hours (Capitol CDP 796826 2)
Tom Waits: The Heart Of Saturday Night (Asylum 7559-60597-2)