Jethro Tull – Baker Street Muse
Jethro Tulls Sänger, Komponist und Texter Ian Anderson schrieb dieses „Marathonstück“ (wie er es nannte) zu einer Zeit, als er allein in einem kleinen Häuschen nahe der Baker Street lebte, einer hektischen Londoner Straße zwischen Regent’s Park und Hyde Park.
Die Baker Street ist legendär als Heimat des fiktiven Sherlock Holmes. Nur wenige Jahre nach Jethro Tull hat auch Gerry Rafferty dieser belebten Straße einen Song gewidmet: „This city desert makes you feel so cold / It’s got so many people but it’s got no soul.“
Ian Anderson scheint die seelenlose Kälte dieser Straße („crowded emptiness“) ebenfalls gespürt zu haben. „Ich war dort sehr einsam, saß nur herum oder spazierte durch einen mir relativ unbekannten Stadtteil.“ Anderson litt unter seiner Scheidung von Jenny, und er warb gleichzeitig (noch glücklos) um Shona, eine Mitarbeiterin bei Chrysalis Records. Seine Heimatlosigkeit, seine Verbitterung färbten offenbar die Art, wie er die Baker Street erlebt hat – gemäß einem weisen Doors-Song: „Menschen sind seltsam, wenn du ein Fremder bist. Gesichter sehen hässlich aus, wenn du allein bist.“ Auch bei der Aufnahme des Stücks (und der gesamten Platte Minstrel In The Gallery) nahm Anderson alles „sehr, sehr ernst“, wie sein Gitarrist Martin Barre berichtet. Später musste der Bandleader einräumen, dass das Album seinetwegen etwas zornig und humorlos geraten war.
Und dennoch: „Baker Street Muse“ ist ein poetisches Juwel der progressiven Rockmusik. Neben „Thick As A Brick“ und „Passion Play“ ist dieses „Mini-Konzeptstück“ (Anderson) der längste Track, den Jethro Tull je im Studio aufgenommen haben (16:39). Er besteht aus sechs Abschnitten, die flüssig ineinander übergehen, und einem Dutzend Tempo-, Sound- und Stimmungswechseln. Der eigentliche Song „Baker Street Muse“ bildet den Rahmen, also Teil 1 (bis 5:07) und Teil 6 (ab 13:53). Der Songtext beschreibt die Straße: Bushaltestelle, Schaufenster, Unterführung, indische Restaurants, Zeitungsverkäufer. Im Refrain dann der unvermittelte Blick nach innen auf den Liebeskummer: „Didn’t make her… I’m just a Baker Street Muse“.
Der Song in Teil 2 („Pig-Me And The Whore“, ab 5:07) erzählt von einer Prostituierten und ihrem Freier nahe der Ecke Blandford Street. Teil 4 („Crash-Barrier Waltzer“, ab 7:44) schildert die Begegnung zwischen einer Obdachlosen und einem Polizisten, surreal verfremdet wie eine Ballettszene. Teil 5 („Mother England Reverie“, ab 10:06) reflektiert schließlich die eigene Situation des einsamen Liebeskranken: „Ich treibe das Baker-Street-Tal hinunter in meiner steilen Unwirklichkeit“.
Jethro-Tull-typisch ist der Sound: die akustische Gitarre, geschmückt durch Klavier und Streicher, dann immer wieder der Sprung in die rockende Band-Power mit improvisierten Füllseln von E-Gitarre und Querflöte. Es gibt einen schön ausgearbeiteten Instrumentalteil (3:36 bis 5:07), unterbrochen von einem kurzen, aggressiven Vokal-Einschub („Walking down the gutter…“). Teil 3 („Nice Little Tune“, 6:37 bis 7:44) ist eine weitere instrumentale Miniatur mit viel Glockenspiel. Teil 5 beginnt mit einem Klangbild ohne Beat (aber mit Straßengeräuschen). Einem bluesigen Songabschnitt („I have no time for Time Magazine“) folgt hier ein schneller, rockender („There was a little boy“). Und mit dem Stichwort „Baker Street Muse“ geht es bei 13:53 in den Hauptsong zurück.
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