Professor P.’s Rhythm and Soul Revue
Der Professor sehnt sich nach der Weite des Landes mit neuen Werken von Staples Jr. Singers, Turnpike Troubadours, Pokey LaFarge, Lizz Wright und Sleepwalker’s Station.
Ich schaue aus dem Fenster und sehe den Turm eines Doms. Die Predigtkirsche eines nordischen Sprengels, seit bald tausend Jahren steht sie da … Und ach, da fällt mir auf, dass ich schon im ersten Satz unserer kleinen Soul-Revue milde durcheinander bin, hab’ ich doch eben „Predigtkirsche“ geschrieben. So ergeht es einem, wenn man den Gedanken nachhängt und gleichzeitig den Fingern freien Auslauf auf der Tastatur gewährt. Wilde Gedanken sind es, schöne Gedanken, die hier um sieben Uhr morgens die Vorhänge im Oberstübchen zur Seite ziehen und die Synapsen aus den Federn holen, ich habe gestern noch lange in Musik gebadet, liebe Freunde, doch dazu gleich mehr. Es ist nämlich die Erinnerung an einen Abend vor wenigen Tagen, die mich umtreibt. Der Rambler, Mr. T. und Professor P hatten sich einmal mehr an die Gleise gestellt und waren als postmoderne Hobos mit der S-Bahn in die outskirts of town gerumpelt. The train kept a-rollin, um den leider etwas vergessenen Johnny Burnette zu zitieren. Dort, am Rande der Stadt, befindet sich im Hinterhof neben einer türkischen Kfz-Werkstatt, einem Kampfsportstudio und einer fragwürdigen Kreativschmiede namens „The Walking Braindads“* auch ein Etablissement, das ich gerne aufsuche. „Happy Billard“ heißt es, und jeden Donnerstag wird dort der „Club am Donnerstag“ veranstaltet, ein ins deutsche Vereinswesen gebettetes Projekt einiger Vorortrentner. Die haben es geschafft (wie, das bleibt ihr Geheimnis), sich so weit im internationalen Tournee-Business zu etablieren, dass sich hier die Bands aus Übersee die Klinke in die Hand geben. An jenem Abend waren es The Comancheros, ein lustiges Trio aus Missouri, das das Erbe von Johnny Cash, Motörhead und ZZ Top zu einer wilden Soul-Rock-Melange mixt. Die Platten sind für meinen Geschmack etwas arg dem Motto „Hau druff“ gewidmet, daher werdet Ihr hier auch keinen Text dazu finden. Doch live … Wie die drei sich in leuchtendroten Westernanzügen der Marke „Karl-May-Fans beim Cowboy-Karneval“ den Weg durch die gemütliche Jeansjackenschar bahnten, dann ungebremst zwei Stunden ihre kniekehlenlangen Föhn-Mähnen fliegen ließen, während sie einen Song nach dem nächsten in hyperventilierender Spielfreude herausballerten, als stünden sie vor 200 000 Zuschauern auf der Glastonbury-Mainstage und nicht vor 23 Altsemestern im Vorstadtfeierabend … Freunde: Lasst Euren liebsten Ritter der Schwafelrunde eine Lanze brechen für Die Unbekannte Band. Für Den Kleinen Club. Für Das-Konzert-Von-Dem-Niemand-Spricht. Geht raus, liebe Leute, legt Eure 15 Euro auf den Tisch des Hauses, wo immer der auch stehen mag, und unterstützt das Leben. Mit Blick auf den Turm der Predigtkirsche: Amen.
*Das habe ich mir natürlich ausgedacht. Hätte aber so sein können, bzw. hätte ich gerne so gehabt für die Skurrilitätensammlung der professoralen Alltagserfahrungen. Ab jetzt aber ist The Walking Braindads, nach allgemeinem Verschwörungstheorieprinzip „Meine-gefühlte-Wahrheit-gleich-global-gültige-Wahrheit“, Fakt. Wer also ein fragwürdiges Kreativkonzept benötigt – you know where to go. Der Vollständigkeit halber: Kfz-Werkstatt, Kampfsportstudio und vor allem Happy Billard existieren auch außerhalb der professoralen Fakten-Bubble.
Staples Jr. Singers – Searching
Wir starten jetzt gleich einmal mit einem Werk, das ich auf die Top-Five-Liste meiner liebsten Alben des Jahres setze. Da ich aber schon im Intro zur heutigen Soulrevue die Hosen rein metaphorisch herabließ und mich als Parttime-Fabulierer in Sachen persönlicher Lebenserfahrung outete, hier erneut ein zur Bewahrung der objektiven Wahrheit dienlicher Hinweis (etwas, was es in heutigen Zeiten, da Fakt und Fiktion für viele Menschen ein und dasselbe sind, nicht oft genug geben kann): Diese Liste gibt es gar nicht. Gäbe es sie aber, würde ich die Staples Jr. Singers eventuell sogar an Position eins setzen wollen. Und damit jetzt keine Verwirrung aufkommt bei all jenen, die meinen zu wissen, dass von den Staples Singers nur noch Mavis Staples aktiv singt und Band-Patriarch Pops Staples doch schon vor einigen Jahren heim zu seinem Schöpfer gegangen sei: Hier handelt es sich um die Staples Jr. Singers, ein Trio, das sich vor bald 60 Jahren als Kinder der Familie Brown aus Aberdeen am Ufer des Tombigbee Rivers im Staate Mississippi gegründet hatte. Eine Familiengospelband, wie es sie unzählige gab, damals im Bible Belt der Verarmten Staaten von America. Man tourte mit dem ältesten Bruder am Lenkrad des alten Familienvans und nahm schließlich für eine Handvoll Dollar ein einziges Album auf, als Annie gerade 14, Edward 15 und R.C. 16 Jahre zählten. Sie benannten sich aber tatsächlich nach den Staple Singers um Pops und Mavis Staples, weil diese als erste Familienband der Südstaaten Gospel mit Soul und Funk kreuzten – und mit Booker T. And The M.G.’s als Begleitband zu großem Ruhm kamen. Auch die Familie Brown mixte das Evangelium mit Alltagstexten und modernen Grooves auf dem Album When Do We Get Paid. Annie sang im Alter von 14 Jahren wie die ältere Schwester von James Brown, mit dem man übrigens nicht verwandt war. Danach aber: Rückkehr in den Alltag, Auftritte in Kirchen, Gemeindezentren etc., seit der Hochzeit von Annie aber getrennt als Caldwell Singers sowie Brown Singers. Das blieb tatsächlich Jahrzehnte so, bis vor zwei Jahren das alte Album wiederveröffentlicht wurde, die drei Geschwister zum ersten Konzert in 50 Jahren zusammenkamen – und vergangenen Herbst schließlich das erst zweite Album ihrer seltsamen Karriere aufnahmen. Searching wurde innerhalb von nur zwei Tagen in einer Kirche in West Point, Mississippi eingespielt, mit zwei Söhnen sowie einem Enkel als Rhythmusgruppe. Und wie sich hier die mittlerweile recht schwergewichtigen Gospel-Rentner mit allem, was Seele und Stimme hergeben, in die Songs werfen, sie ein- und wieder ausatmen, da fehlen dem Professor ausnahmsweise mal die Worte. Nur so viel: Ich habe das Licht gesehen!
Label: Luaka Bop Records
Format: CD, LP, DL 24/96
Turnpike Troubadours – A Cat In The Rain
Ein verhalten plickendes und plingendes Banjo bahnt sich seinen Weg durch den Staub East Oklahomas, während ein Männerchor sanft zum Gesang ansetzt. Oh ja, der innere Filmvorführer wirbelt mit den Zelluloidrollen. Dorniges Gestrüpp im Panhandle-Staat, das Kreischen der Kojoten in der Dustbowl des Mittleren Vergessens. Tumbleweed weht über den Highway. In der Ferne flirren die metallenen Dächer der Megaställe eines Schweinemastbetriebs in der Mittagshitze. Solche Bilder sind es, die vor den inneren Augen des Professors vorbeiziehen wie ein ewiger Cargo-Train am einsamen Bahnübergang in the middle of nowhere … Nun, Freunde, das weite Land. Der Atem der Prärie, der Duft des staubigen Steppengrases und von Schweinepisse. Ich habe die Augen geschlossen, die Kopfhörer auf und lasse A Cat In The Rain der Turnpike Troubadours in mich einsickern. Ein wunderschönes Album jener Outlaw-Country-Band, die sich so weit nur irgend möglich vom klassischen Nashville-Feelgood-Country entfremdet hat. Ein Comeback-Album ist es, das die Band aus den dürren, trockenen Weiten Oklahomas hier vorgelegt hat, nachdem Sänger und Gründer Evan Felker vor fünf Jahren mit Ruhm und Alkohol nicht mehr klarkam. Man hatte sich ja bereits 2007 als Kneipenband gegründet, 2012 dann einen unverhofften Durchbruch mit Goodbye Normal Street und in der Folge obersten Chartpositionen erlebt. Jetzt verpflichtete das wiedervereinte Sextett Shooter Jennings als Produzenten, den einzigen Sohn des 2002 verstorbenen Waylon Jennings, jenem Begründer der Stilrichtung Outlaw-Country und ewig rebellische Stimme gegen das konforme, süßlich klingende Nashville-Country-Establishment. Vielleicht kennt Ihr seinen größten Hit, im Duett mit Willie Nelson gesungen: „Mamas, Don’t Let Your Babies Grow Up to Be Cowboys“. Sohn Shooter holte nun in den berühmten Fame Recording Studios in Muscle Shoals, Alabama alles aus den Turnpike Troubadours heraus: sanften Steppencajunsoul („Mean Old Sun“), Countrygospelfolk („Lucille“) und Jukejointpartyrock („Black Sky“). Gutes, nein, sehr gutes Werk.
Label: Wedge/Rough Trade
Format: CD, LP, DL 16/44
Pokey LaFarge – Rhumba Country
Ach, da habe ich gerade einen kleinen Freudenflash erlitten, Freunde. Denn während im Hintergrund zum wiederholten Mal Rhumba Country von Pokey LaFarge läuft, ich meine Gedanken aus den hintersten Winkeln meiner Shotgunbude zusammensammelte und mich sodann an der Schreibmaschine niederließ, wollte ich doch vor allem erst einmal eins wissen: Wann kann ich den Mann mal live sehen? Jetzt weiß ich es, ein flinker Seitenblick ins Netz hat’s erhascht. Im Herbst und Winter ist Andrew Heissler, der sich aber seit seinem Highschool-Abschluss im Jahr 2001 und dem Genuss der wenigen Aufnahmen des viel zu früh an einer Überdosis verstorbenen Folkmusikers Peter La Farge nurmehr Pokey LaFarge nennt, auf Tour in Deutschland. Also, Terminkalender hochgefahren, notiert mit dickem Ausrufezeichen. Wer dieser Pokey ist? Nun, seinerzeit nach der Schule nahm er als junger Mann Gitarre und Banjo – das hatte ihm sein Großvater, Mitglied im St. Louis Banjo Club, zum Start ins Leben geschenkt – und machte sich vom Ufer des Mississippi auf nach Westen, um sich als Straßenmusiker zu verdingen. 2006 nahm er eine erste Platte auf, Marmelade. Rhumba Country ist nun bereits das elfte Werk dieses seltsamen Ausnahmekünstlers. Er mischt Blues mit Jazz, Calypso mit Cajun, Ragtime mit Rumba und schreibt ganz wunderbare kleine Songminiaturen, die aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht kennen muss, diverse Lianen in meinem inneren Gefühlsdschungel zum Schwingen bringen. Rhumba in the jungle, wenn man so will. Beispielhaft sei der Song „Run Run Run“ genannt, ein Western-Swing-Shuffle mit dezenter Latino-Infusion, der wahlweise Soundtrack zu einem Erotikfilm der Sechziger oder einem fragwürdigen Agentenfilm sein könnte. Professorenherz, was willst du mehr?
Label: New West Records
Format: CD, LP, DL 24/48
Lizz Wright – Shadow
Aus dem tiefsten Georgia, dort, wo unter der Sonne des Südens die süßen Pfirsiche gedeihen und der Soul obendrein, man denke nur an „Midnight Train To Georgia“ von Gladys Knight and the Pips, ja, von deep, deep down south erreicht mich eine schöne Platte. Lizz Wright, Kind des Peach States und eines Predigers, mittlerweile studierte und gepriesene Jazzsängerin, hat ihr achtes Album veröffentlicht. Das gefällt dem Professor, auch wenn’s ihm teilweise fast zu perfekt produziert klingt, da steht jeder Ton wie ein Statement. Doch das wird sicher manch Leserin und Leser des angesagten Influencer-Mediums FIDELITY erfreuen: eine ideale Platte zur inneren und äußeren Auslotung des persönlichen High-End-Equipments. Nachdem sich Wright zuletzt vermehrt der Gospeltradition des Familienerbes widmete und mit Fellowship auch ein dem klassischen Kirchengenre verschriebenes Album eingespielt hatte, kehrt sie nun mit Shadow noch tiefer zu ihren Wurzeln zurück, mischt eben Gospel mit afrikanischer Rhythmik, Soul mit Jazz und lässt die sanften Grooves verschiedener Genres ineinander umschlungen aus den Boxen tanzen. Hört hier herein: „Sparrow“ (fast siebenminütiges Intro-Duett mit der französisch-afrikanischen Sängerin Angélique Kidjo, in dem ein Kontrabass Freundschaft schließt mit einer Violine und verschiedenen analogen und digitalen Percussion-Instrumenten – schön!), „Root Of Mercy“ (Uptempo-Gospel mit Church-Credibility und fetter B3-Orgel) und „I Made A Lovers Prayer“ (klingt mit vier zauberhaften Geigen und einem würdevoll swingenden Bass wie eine verschollene Ballade von Simon & Garfunkel).
Label: Blues & Greens Records / Virgin
Format: CD, LP, DL 24/96
Sleepwalker’s Station – Manitoba
Bei dieser Platte weiß ich nicht so recht, welchem Genre ich sie zuordnen mag. Soul? Chanson? Death Metal? Obwohl, doch, so viel kann ich sagen: Death Metal ist es nicht. Hätte ich das so stehen lassen, wäre vermutlich Daniel del Valle in München in den ICE gestiegen und hätte den Professor in seiner Hütte am Polarkreis zur Rede gestellt. In Bayern hat der deutsch-italienisch-spanische Singer-Songwriter sein Base Camp aufgeschlagen, von dem aus er offenbar quer durch die Welt joggt, um musikalische Mitstreiter und kreatives Input für sein künstlerischen Schaffen an der Isar zu suchen. Was soll man aber als schreibender Professor machen, wenn einen schon das Booklet mit Informationen zur Aufnahme erschlägt? Del Valles Band Sleepwalker’s Station setzt sich aus Musikern aus Deutschland, Spanien und Italien zusammen, auf der nun veröffentlichten aktuellen Platte Manitoba wird in fünf Sprachen und diversen Dialekten gesungen (unter anderem in Biergarten-Bayerisch), man spielt neben der klassischen Besetzung zusätzlich Trompete, Posaune, Violine, Klarinette sowie die Kastenhalslaute Gitalele. Und weil man viel Personal benötigt, wenn die Einspielung aller Songs live und gemeinsam im Studio am Atlantik in Portugal stattfinden soll, wurden zudem Gastmusiker aus fernen Gestaden (u. a. Island und Baden-Württemberg) dazugebeten. Das Kollektiv tobt sich dann in bunter Genrevielfalt aus, mischt Bossa Nova, Chanson, Walzer, Pop, Cumbia-Rhythmen mit Soul und Pop – und ja, wie und warum auch immer, manchmal ist mehr einfach mehr: Das Album ist gut. Anspieltipps: „Fading Names“ (Song, der mich in seiner dezent melancholischen Lebensbegutachtung an Elliot Smith erinnert, und das ist immer ein Kompliment!), „Prohibido“ (spanisches Stück, das kein Sommerhit mehr wird, jahreszeiten- wie auch charaktertechnisch zu melodramatisch, mit wunderbarer Blues-Folkgitarre, Texmex-Trompete und spanischem Lyriklispeln) und „München“ (Brezn-Blues? Biergarten-Folk? Auf jeden Fall: Hymne mit leichtem Reggaeunterton und bayerischem Zungenschlag, plus Klarinette und Tuba, schräg & schön).
Label: Timezone Records
Format: CD, LP, DL 16/44
PS: Und falls Daniel del Valle doch mal am Polarkreis aufschlagen sollte, so habe ich, nach dem Studium alter Interviews zu u. a. seinen frühen Vorbildern, ein schönes Smalltalk-Thema: Denn auch der Professor war einst begeisterter Fan der Ersten Allgemeinen Verunsicherung. Mich hat’s aber, da darf die Welt dankbar sein, nicht dazu gebracht, dem Karriereweg Singer-Songwriter zu folgen.