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Albumdoppel: The Who / Kid Dynamite

The Who/Kid Dynamite

Albumdoppel: Resteverwertung

Albumdoppel: The Who/Kid Dynamite

Um 1969 kamen Bootlegs groß in Mode. Diese illegalen Mitschnitte von Rockkonzerten entstanden weniger aus Geldgier als vielmehr aus Fan-Leidenschaft.

Formationen wie The Who waren davon besonders betroffen, denn sie galten als überragende Konzertband, bei der sich das Mitschneiden lohnte – musikalisch, versteht sich. Schon 1970 reagierte das englische Quartett, indem es einen eigenen Livemitschnitt veröffentlichte (Live At Leeds) und ihn äußerlich wie ein Bootleg-Album verpackte (s. FIDELITY 33). Als das Bootleggen aber nicht abriss, sagten sich die Musiker: „Unsere Fans wollen noch mehr Unveröffentlichtes von uns? Können sie haben!“ 1973 beschlossen The Who, unbenutztes Studiomaterial, sogenannte „Outtakes“, für ein eigenes Album zusammenzustellen. Allerdings stand da gerade auch die Verfilmung ihrer Tommy-Oper an. Pete Townshend war mit der musikalischen Vorbereitung der Filmsongs befasst, Roger Daltrey übte seine Schauspielerrolle. Daher wurde John Entwistle, der verlässliche Bassist der Band, mit der Aufgabe betraut, brauchbare „Outtakes“ für ein Album zusammenzutragen.

Entwistle kämpfte sich also durch einen „Berg unbeschriebener Tonbandschachteln“ – und er wurde fündig. Er stieß auf so viele geeignete Songs, dass er ein Doppelalbum hätte füllen können, entschied sich dann aber für eine einzelne LP mit elf Stücken aus den Jahren 1964 bis 1973. Bei der Auswahl stellte er sich eine „Parallel-Karriere“ der Band vor, nämlich, „welche Singles und welche Albumtracks wir hätten veröffentlichen können“. Die unbenutzten Aufnahmen waren einst für geplante EPs entstanden, für später aufgegebene Rockopern und Albumprojekte oder als Sonderaufträge (eine Nichtraucher-Kampagne!). In Pete Townshend weckten die Songs die Erinnerung an „große Träume, die nicht wahr geworden sind“. Auf der Plattenhülle kommentiert der Bandleader jeden Song extrem launig und mit souveräner Ironie. Und Roger Daltrey erfand spontan den Albumtitel für die musikalische „Resterampe“: Odds & Sods (Sehr frei übersetzt: „Schräges und Schrott“).

Albumdoppel: The Who / Kid Dynamite

Der älteste Song in Entwistles Auswahl heißt „I’m The Face“ – er war als einziger früher schon einmal veröffentlicht worden, wenn auch in sehr kleiner Auflage, nämlich als B-Seite der allerersten Single der Band. Das war 1964 gewesen, als The Who noch „The High Numbers“ hießen. Das Stück, ein rockender Zwölftakter mit Bluesharp, Bluesgitarre und Bluespiano, war übrigens geklaut. Hinter „I’m The Face“ versteckt sich der Song „Got Love If You Want It“ von Slim Harpo, einem Bluesmusiker aus Louisiana. Der Manager der Newcomer-Band hatte einen neuen Text dazu geschrieben: „I’m the face if you want it“ statt „I got love if you want it“. Die neuen Lyrics waren auf die Subkultur der britischen Mods zugeschnitten. Doch nach dieser Single waren die High Numbers Geschichte und wurden zu The Who.

Obwohl Odds & Sods nur Resteverwertung betreibt, wurde es wie ein neues Who-Album angenommen, als es im Oktober 1974 erschien. Im Vereinigten Königreich stieg es in die Top Ten der Album-Charts. „Postcard“ und „Put The Money Down“ (B-Seite) wurden als Single ausgekoppelt, dann auch „Long Live Rock“ und „Pure And Easy“ (B-Seite). Qualitativ unterschieden sich die Songs auf Odds & Sods nicht von den bekannten Schlachtrössern der Band. „Naked Eye“ zum Beispiel gehörte in den 1970er Jahren auch zum Live-Programm von The Who. In späteren CD- und Doppel-Vinyl-Versionen wuchs das Album Odds & Sods auf 23 bis 25 Songs an.

Auch der typische englische Musikkritiker, der die Rockmusik gerne für den „Aufschrei der Arbeiterklasse“ hält, war 1974 von Odds & Sods begeistert. Nach den (seiner Meinung nach) „verkopften“ Konzept-Projekten wie Tommy und Quadrophenia lieferten The Who nun einfach wieder ein Paket kompromissloser Drei-Minuten-Songs ab: „Auf Odds & Sods gibt es keine Handlung und keine Leitmotive. Dieser Mischmasch aus Stücken präsentiert Popmusik in roher Form, die Kanten sind noch dran“ (Rolling Stone). Für ihre rohe, kantige Botschaft hatten The Who das Coverfoto ideal gewählt: die vier Musiker unter Rugby- oder Football-Helmen, gewappnet und kämpferisch, ein deutliches „ROCK“ auf den Helmen, ein ramponiertes, halb zerrissenes Foto.

Verglichen mit The Who, die seit 60 Jahren bestehen, war die amerikanische Punkband Kid Dynamite nur eine flüchtige Erscheinung in der Popgeschichte. Nach drei Jahren schon löste sich das Quartett aus Philadelphia im Jahr 2000 wieder auf. Doch kurz zuvor war das zweite Album erschienen, das Ende der Band kam offenbar plötzlich. Deshalb lagen auch bei Kid Dynamite einige „Reste“ herum, Outtakes, Coverversionen, Session- und Livemitschnitte, um die es der Band leidtat. Also packten sie alles auf ein Album und nannten es Cheap Shots, Youth Anthems.

Albumdoppel: The Who / Kid Dynamite

Manche dieser 29 Überbleibsel dauern nur wenige Sekunden. Die Punk-Vocals sind sicherlich nicht jedermanns Sache – dagegen gehen die Riffs und Grooves hier gut ab. Weil The Who bei Punkbands immer ein gutes Standing hatten, lag das Cover-Vorbild wahrscheinlich nahe. Vielleicht hat die legendäre Who-Resterampe die amerikanische Band sogar erst auf die Idee gebracht, etwas Ähnliches zu versuchen. Immerhin haben die Punker auf ihrem Cover noch einen Gag versteckt. Unterm zweiten Helm von links steckt eine Frau – sie gehörte definitiv nicht zur Band.

The Who: Odds & Sods (Track, 1974)

Kid Dynamite: Cheap Shots, Youth Anthems (Jade Tree, 2003)

The Who – Odds & Sods auf discogs.com

Kid Dynamite – Cheap Shots, Youth Anthems auf bandcamp.com

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