AVS Warschau 2024
Von High End bis Hip-Hop: Warschaus Audio Video Show mischt die audiophile Szene auf.
Warschau ist jung, bunt und seit Jahren die osteuropäische Boomtown. Und was für Warschau im Allgemeinen gilt, das gilt für die Warschauer Audio Video Show (AVS) erst recht. Vor nunmehr 26 Jahren als studentisches Projekt ins Leben gerufen, zieht die von Adam Mokrzycki organisierte Messe von Mal zu Mal mehr Interessenten an. Es dürfte in ganz Europa keine Audio-Messe im Consumerbereich geben, die es schafft, an drei Tagen und an drei Standorten weit über 15 000 Gäste zu begeistern. Obwohl ein mildes und sonniges Herbstwochenende eigentlich dazu verleitet hätte, den Tag chillend am Weichselufer oder bei einem Bummel auf der Flaniermeile „Nowy Swiat“ zu verbringen, drängelten sich neugierige Audioenthusiasten durch die kleinen Hotelräume des „Sobieski“-Hotels, bestaunten glitzerndes High End in den Riesensälen des schräg gegenüber liegenden Hotels „Golden Tulip“ oder begeisterten sich bei unterschiedlichster Musik, Gewinnspielen und DJ im Innenrund des neuen Nationalstadions „PGE Narodowy“ im Stadtteil Praga.
Die AVS genießt nicht umsonst seit Jahren den weit über Polen hinausgehenden Ruf einer Messe, die nicht nur die neuesten Audio- und Videogeräte auf anspruchsvolle Weise präsentiert – Kopfhörer, Fernseher, Projektoren, Lautsprecher, Geräte und Audiosysteme in jeder Preisklasse (dieses Jahr von 25 Euro bis knapp an die Millionengrenze), sondern den Besuchern auch die Möglichkeit bietet, sich aktiv an der Messe zu beteiligen. Natürlich versteht Adam Mokrzycki sein Geschäft mittlerweile so gut, dass die AVS einige Ultra-High-End-Geräte wie die neuen Sonus Faber Suprema oder die klanglich und ästhetisch außergewöhnlichen Estelon Estelle Extreme Mk II marketingtechnisch ganz vorne platziert, dennoch kann man sich mittlerweile des Eindrucks nicht erwehren, dass es solche Zurschaustellungen im Tiere-Menschen-Sensationen-Modus gar nicht mehr nötig hat, sondern die AVS in Polen mittlerweile ein Zuschauermagnet ist, wie es in den seligen 80er und 90er Jahren die IFA in Berlin war.
Vor allem in den Innenetagen des PGE-Stadions wurde auf eindrucksvolle Weise deutlich, woran HiFi- und/oder High-End-Messen in Deutschland gemeinhin kranken und worin sich die AVS hier so angenehm unterscheidet. Nur in geringen Scharen zogen alleinstehende nerdige Männer Ü50 mit Checkerblick über die Gänge; vielmehr war es ein regelrechtes Familien-Stelldichein aller Generationen und Geschlechter, bei dem sich niemand daran störte, dass zwischen Räumen mit Gryphon und Audio Wilson auch bunte Boomboxen von JBL vor sich hin ballerten und Großbildschirme von Hisense bunte Unterhaltungsprogramme abspielten. Dazu verteilten sich auf den lichtdurchfluteten Fluren des Stadions etliche Stände mit einer feinen Vinylauswahl, die dankbar von vielen Käufern aufgenommen wurden, da erstaunlicherweise die Zahl von Plattenläden in Warschau doch recht gering ist. Einmalig war auch der Blick aus den Räumen des Innenrunds heraus – wann hat man schon mal die Gelegenheit, zwischen mannshohen High-End-Lautsprechern hindurch auf den Rasen und die Zuschauertribünen eines Nationalstadions blicken zu können.
Sympathisch war auch dieses Jahr wieder der alle Käuferschichten verbindende Ansatz der Messe. Da haben die polnischen Vertriebe von internationalen Edelmarken wie Gryphon, Wilson Audio, Chord oder McIntosh überhaupt keine Probleme damit, dass im direkten Nachbarraum kontrastiv Bluetooth-Lautsprecher oder All-in-one-Anlagen präsentiert werden. Erlaubt ist, was dem Publikum gefällt. Auch kein Naserümpfen und keine despektierlichen Blicke waren zu beobachten, wenn Jugendliche in Hoodie und Air Max um sündhaft teure Röhrengeräte oder chromblitzende Tonarme herumschlichen und mal gerne Lautsprecherkabel in Unterarmdicke prüfend in die Hand nahmen. Hier weiß man, wie Nachwuchsarbeit geht. Dazu zählte dann auch die riesige Kopfhörerhalle, in der man nicht nur bequem sitzend Schallmützen unterschiedlichster Couleur nach Herzenslust ausprobieren konnte, sondern auch im Loungemodus miteinander ins Gespräch kam.
Diese Unverkrampftheit zeigt sich vor allem bei der Musikauswahl; und zwar nicht nur im Stadion PGE Narodowy, sondern auch an den anderen beiden Standorten. Nur ganz vereinzelt wurde man mit der üblichen High-End-Musik zwischen „Hotel California“, „Take Five“ und der unvermeidlichen Diana Krall zwangsbeglückt. Stattdessen erklang meist ein wilder Mix, der auch nicht vor polnischer Folkore oder Edelkitsch im Stile eines Frank Duval zurückschreckte und ansonsten mit Billie Eilish, Eminem oder auch polnischem Hip-Hop ein gezielt jüngeres und breiteres Publikum ansprach.
Auffällig war indes bei recht vielen Vorführungen eine nicht zu überhörende Präsenz des Bassbereichs. Ob dies auf den Geschmack des Publikums zielen sollte oder ob sich hier ein genereller Trend der Entwicklungsabteilungen zeigt, war nicht eindeutig zu eruieren, zumal sich dieser Trend nicht nur im Stadionrund zeigte, sondern auch in den noblen Sälen des Golden Tulip und den verwinkelten Etagen des Sobieski-Hotels eindeutig zu vernehmen war. Hier traf man das bekannte Format einer Hotelmesse an, das dennoch etliche Überraschungen bereithielt. Neben den international bekannten Marken, denen man auch auf den diversen deutschen HiFi-Tagen oder auf der Münchner HIGH END begegnet, präsentierten sich hier ausgesprochen viele osteuropäische Hersteller, die nicht nur allesamt ihr Handwerk gelernt haben, sondern auch mit klanglicher Finesse und stimmigem bis außergewöhnlichem Design beeindrucken konnten. Besonders überzeugen konnten hier die Digitalgeräte von Ferrum, die über ihren polnischen Vertrieb mittlerweile auch bei einigen deutschen Händlern zu bekommen sind. Auch wenn viele Firmen in Deutschland (noch) keinen Vertrieb haben, steht ja dank der EU einem Direktimport nichts im Wege. Auf diese Möglichkeit angesprochen, zeigte sich eine erstaunliche Anzahl Firmen durchaus offen, gemeinsam ins Geschäft zu kommen.
Wenn Sie also überlegen, welche Audio-Veranstaltung Sie im kommenden Herbst besuchen wollen, kann ich Ihnen die Warschauer AVS nur dringend ans Herz legen. Umweltschonend kommen Sie mit dem Zug in gerade mal fünf Stunden von Berlin oder in sieben Stunden von Hannover oder Hamburg aus in die polnische Hauptstadt, die unbedingt eine mehrtätige Erkundung wert ist. Warum sich nicht nach dem Besuch im PGE-Stadion auf einen Abstecher in das fußläufig zu erreichende Gelände der ehemaligen Wodkafabrik Koneser aufmachen, um auf dem neu gestalteten Erlebnisbereich einen Snack oder einen Drink zu sich zu nehmen? Wer es lieber ein wenig traditioneller mag, der geht nach einem Hörtag im „Sobieski“ und „Golden Tulip“ zur Stärkung in das angesagte „Soul Kitchen“ nahe dem Kulturpalast, das für seine famose Balance von polnischer und internationaler Küche bekannt ist. Und wer danach noch ganz mutig ist, besucht an einem Samstagabend eines der Lokale rund um den Warschauer Zentralbahnhof, in denen gerne nach 23 Uhr auch mal auf den Tischen getanzt wird. Warschau ist jung, Warschau ist bunt – und in Sachen Audio Ende Oktober der Nabel der Welt.
