Bachs Musikalisches Opfer
Bachs Musikalisches Opfer fordert die Kreativität heraus, sogar mit bewusst unvollendeten Umkehr- und Rätselkanons. Auch bei der Instrumentierung dieser „Gedankenspiele“ zählt Bach auf die Fantasie der Musiker.
Die Geschichte ist bekannt: 1747 besuchte Johann Sebastian Bach seinen Sohn Carl Philipp Emanuel in Potsdam, nachdem dessen Boss, der preußische König Friedrich II., mehrfach den Wunsch geäußert hatte, den „alten Bach“ mal kennenzulernen.
Bach wanderte also durchs Potsdamer Stadtschloss und durfte die Silbermann-Hammerflügel ausprobieren – der König besaß insgesamt 15 dieser neuartigen Klaviere. Schließlich gab Friedrich II. dem Besucher ein Thema vor und forderte ihn auf, am Klavier eine dreistimmige Fuge darüber zu improvisieren, denn Bach war berühmt für seine kontrapunktischen Ad-hoc-Künste. Er löste die Aufgabe so gut, dass der König gleich noch nach einer sechsstimmigen Fuge fragte. Dafür wählte Bach dann aber lieber ein eigenes (geeigneteres) Thema. Er vermisste am Hammerflügel auch das gewohnte zweite Manual.
Die Begegnung hatte ein Nachspiel namens Musikalisches Opfer (BWV 1079), denn die Aufgabenstellung des Königs ließ Bach natürlich keine Ruhe. Zurück in Leipzig begann er, „dieses recht Königliche Thema vollkommener auszuarbeiten“. Neben der dreistimmigen Fuge komponierte er nun auch die gewünschte sechsstimmige Ausführung – ein „wahres Wunderwerk kontrapunktischer Kunst“ (Hermann Keller), so dicht gesetzt, dass es auf zwei Manualen mit zehn Fingern spielbar bleibt. Beide Stücke nannte Bach wegen der freieren Form nicht „Fuge“, sondern „Ricercare“. Und da er schon mal dabei war, schrieb er über Friedrichs Thema noch zehn Kanons sowie – mehr im Stil der preußischen Hofmusik – eine viersätzige Triosonate.
Für diese insgesamt 16 Stücke oder Sätze hat Bach keine klare Reihenfolge und kaum eine Instrumentierung vorgegeben. Klar scheint zu sein, dass ein Cembalo sowie mindestens zwei Geigen und eine Flöte (das Instrument des Königs) zum Einsatz kommen sollen. Gewöhnlich wird das Musikalische Opfer daher von einem vier- bis achtköpfigen Kammerensemble gespielt. Aber komponierte Bach nicht eigentlich für Musiker der Zukunft? 1935 hat Anton Webern das sechsstimmige Ricercare „klangmelodisch“ für großes Orchester bearbeitet.
Die Stadtkirche von Schorndorf bei Stuttgart erhielt 1976 eine neue Orgel, konzipiert vom Kirchenmusiker Helmut Bornefeld (1906–1990). Für die feierliche Einweihung schrieb Bornefeld eine Bearbeitung von Bachs Musikalischem Opfer – für Flöte, Violine und Orgel. (Fünf Stücke spielt die Orgel allein.)
Die Kirchenmusikdirektorin Hannelore Hinderer war Bornefelds Schülerin in Schorndorf – und kehrte später dorthin zurück. „Ich habe an vielen großen Orgeln gespielt“, sagt sie, „aber ich fand meine Orgel in der Stadtkirche am schönsten.“ Hinderers Einspielung (Carus 83.460) von 2012 macht den modernen Farbenreichtum von Bornefelds Instrument und den Witz seiner Bach-Bearbeitung deutlich. Helle, bissige, präsente Register – und dann wieder mysteriös gedeckte und nasale Timbres. Alles erfrischend unhistorisch.
Vielleicht nirgends verehrt man Bach so sehr wie in den Niederlanden. Nachdem das Amsterdamer Holzbläserquintett Calefax bereits die Goldberg-Variationen und die Kunst der Fuge bearbeitet hatte, machte sich ihr Chef-Arrangeur Raaf Hekkema auch Gedanken über eine Adaption des Musikalischen Opfers.
Fürs sechsstimmige Ricercare brauchte er auf jeden Fall einen sechsten Bläser – er wählte Arthur Klaassens am Lupophon, einer Bass-Oboe. Und da es nun schon einmal sechs Stimmen waren, hat Hekkema in den anderen Stücken die Akkorde des Basso continuo so auskomponiert, dass alle Musiker immer beschäftigt sind. Elf verschiedene Holzblasinstrumente kommen auf Bach’s Musical Offerings (Pentatone PTC 5186 840) zum Einsatz (2020). Die rein bläserische Übersetzung und die verschränkte Reihenfolge der Stücke wirken mal feierlich, mal verspielt.
In eine andere Richtung geht die belgische Formation Het Collectief, die sich ebenfalls vom Musikalischen Opfer kreativ herausgefordert fühlte. Ohne eine Note an der Komposition zu ändern, führen die fünf Musiker Bachs Werk mutig in neue, modernistische Welten von Klang, Ausdruck und Feeling.
Dem veränderten Charakter der Stücke tragen sie dabei mit eigenen Untertiteln Rechnung. Manches gerät sphärisch-meditativ („Aeolian“, „Zen“), anderes wild und entfesselt („Tzigane“, „Mephisto“, „Hommage à Jimi H“). Das übliche Instrumentarium (Cembalo, Flöte, Geigen) ergänzen die fünf Flamen noch durch Alt- und Pikkoloflöte, Klarinette, Bassklarinette, Klavier, Fender Rhodes und Kleinorgel. Revisited (Fuga Libera FUG 601) von 2005 öffnet das Musikalische Opfer weit für die Zukunft.