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Michelle David - FIDELITY-Interview

Michelle David im FIDELITY-Interview

Oh happy Day!

Michelle David im FIDELITY-Interview

Jahrelang tourte sie mit großen Gospel-Revuen um die Welt und sang die Spirituals von Mahalia Jackson. In den Niederlanden hat die Amerikanerin Michelle David ihre Heimat gefunden – und ihre eigene Stimme. Zur Veröffentlichung des neuen Albums Brothers & Sisters erklärt die Sängerin, wie sie mit ihrer Band The True-tones traditionelle Kirchenklänge mit modernen Arrangements und Anleihen sogar aus dem Pop in einen neuen Sound verwandelt.

Michelle David - FIDELITY-Interview
Michelle David. Fotografie: Jonathan Kielherna, Marie-Jose Eldering

Es ist Freitagnachmittag, das Videotelefonat startet. Michelle David sitzt in einem Studio, hinter ihr kleben Konzertplakate an der Wand. In wenigen Tagen geht sie selbst mit ihrer Band The True-tones auf Tour. Zunächst durch die Niederlande, ihre Wahlheimat. Gerade erst hat sie ihr neues Album veröffentlicht, Brothers & Sisters. Wieder ein Werk der stimmgewaltigen Gospelsängerin, das Soul mit Funk, Pop, Jazz und natürlich den Grooves aufgeheizter Gospelgottesdienste vermischt. „Alright, let’s go“, fordert Michelle David auf. Und los geht’s.

FIDELITY: Michelle, Sie waren einmal in der Morgensendung eines niederländischen TV-Senders zu Besuch. Man spielte Ihnen dort Videos von Gospelauftritten vor, von Mahalia Jackson, von The Blind Boys of Alabama und von den Kurt Carr Singers. Sie konnten nicht stillsitzen und groovten auf dem Sofa …

Michelle David: (lacht laut) Ja, dagegen komme ich nicht an. Ich war schon in der Kindheit ständig von Musik umgeben. Zu Hause lief immer irgendeine Platte, Gospel, Blues, Jazz, Pop … Meine Tante, bei der ich aufgewachsen bin, hatte eine bunte Sammlung. Vor allem aber war Gospel die Musik meiner Jugend. Die halbe Woche über war ich in der Kirche. Sonntags, jeden Mittwoch. Und meist auch an den Samstagen, da haben wir dann geübt und auch für die Nachbarschaft gekocht. Ich kann einfach nicht stillsitzen, wenn gute Musik läuft. Vor allem bei den Kurt Carr Singers.

Ich muss gestehen, die Gruppe kannte ich gar nicht.

Einer meiner Lieblingsmusiker, Kurt Carr. Ein Vorbild. Seine Arrangements, sein Ohr für außergewöhnliche Sänger und Sängerinnen. Vor Jahren habe ich ihn einmal interviewt, im Rahmen eines Gospelfestivals in den Niederlanden. Ich hatte damals eine eigene kleine Fernsehsendung. Beim Konzert aber hat Carr mich auf die Bühne gebeten und mich einen Song singen lassen. Ein großer Moment.

Da kann ich ja von Ihnen lernen: Was fragt man einen berühmten Gospelkünstler?

Oh, jetzt haben Sie mich, Herr Kollege (lacht schallend). Das ist zehn, zwölf Jahre her. Ich erinnere mich nur an eins: Wir haben gelacht, und zwar viel!

Ich habe das Gefühl, da sind wir auf einem guten Weg … (lacht)

Und halt, ja genau, er hatte mich dann noch gefragt, ob ich die Oprah Winfrey der Niederlande wäre. Da bin ich zusammengebrochen.

Als Talk-Queen ist Oprah ja legendär. Aber ihre Gospel-Qualitäten …

(lacht)

Sie sind ja dann von der Oprah zur Mahalia der Niederlande geworden.

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Mahalia Jackson? (lacht) Entschuldigen Sie, das ist zu hoch gegriffen. Aber ich bedanke mich für das Kompliment. Mahalia war eine einzigartige Künstlerin. Aber auf eine Art sind auch wir Pioniere des Gospels.

Inwiefern?

Wir interpretieren den Gospel auf eine Art, wie das nicht viele Bands tun. Wir sind offen für alle möglichen Inspirationen. Pop, Jazz, Hip-Hop. Meine erste LP als Kind war von der Sugarhill Gang, Rap-Musik. In der Kirche aber und bei den Gospel-Tourneen habe ich „Oh Happy Day“ oft genug gesungen für dieses Leben.

Schon Ihre ersten vier Alben, Michelle David & The Gospel Sessions Vol. 1–4, waren von Folk und Funk inspiriert. Das neue Werk Brothers & Sisters ist sehr soulig, mit Einflüssen von Rock’n’Roll und sogar Afro-Beat. Ist das denn noch ein Gospel-Album?

Die Texte sind noch klassisch Gospel – aber in einem frischen Outfit. Wir bewegen uns in ganz aktuellen Klangwelten.

„Oh Happy Day“, reloaded?

Gut gesagt. Ja, der Trend kommt aus Amerika. Junge Bands interpretieren die traditionellen Songs neu und spielen Gospel-Dance, Gospel-Rap oder Gospel-R’n’B. In Europa sind wir damit fast einzigartig.

Wie nennen Sie Ihren Stil?

Ich würde ihn „inspirierten Gospel“ nennen. Die Welt dreht sich ja weiter. Die Priester in der Kirche haben mit neuen Realitäten zu tun. Damit auch die Gospelmusik. Brothers & Sisters ist für mich so etwas wie ein Spiegel der Welt. Es passiert so viel, da kann ich als Künstlerin nicht wegschauen. Menschen leiden, Menschen sterben. Ich bin keine Aktivistin. Ich erhebe aber meine Stimme. Ich singe von der Welt, die wir uns für unsere Kinder wünschen. Und das ist keine Welt, in der eine Generation von traumatisierten Kindern heranwächst.

Wie schwer ist es, nach Jahrzehnten in gut geölten Gospel-Revuen seine eigene Stimme zu finden? Einen eigenen Sound?

Ich bin Profi. In einer Mahalia-Show klinge ich wie Mahalia. Im Motown-Musical wie Diana Ross. Meine Stimme ist so trainiert. Ich kann sie aber auch freilassen. Dann klinge ich wie Michelle. Als ich das erste Mal mit den Jungs meiner heutigen Band im Übungsraum zusammenkam, habe ich sie gewarnt. Ich bin laut. Manchen Künstlern ist das zu viel. Die Jungs waren aber ganz entspannt. Sie kitzelten sogar Qualitäten aus meiner Stimme heraus, die ich nicht kannte.

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Zum Beispiel?

Wenn ich ein paar Songs mit voller Energie gesungen habe, dann wird meine Stimme irgendwie rasselnd. Normalerweise mache ich dann eine Pause. Meine Jungs aber sagten: „Mehr davon. Viel mehr davon!“

Ich habe aber auch gelesen, die Band hätte Sie im Studio auf einen Stuhl gefesselt, um Sie zu bremsen …

Fast … (lacht) Ich habe jahrzehntelang im Stehen gesungen. Jetzt sollte ich mich plötzlich hinsetzen. ‚Das geht nicht‘, habe ich erklärt, ‚dann klinge ich nicht gut‘. ‚Lass mal, das klappt schon‘, hat Onno, mein Gitarrist, gesagt. Und so war’s. Ich musste mich sogar vornüberbeugen, um mein Klangvolumen noch weiter zu verkleinern. So habe ich fast das ganze Album eingesungen. Dadurch klingen die Songs sehr intim.

Jeder Gesangslehrer würde sagen: So nicht.

Vermutlich. Wenn ich aber beim Singen stehe, dann überkommen mich die Gefühle, dann hau’ ich alles rein. Das bekommt nicht jedem Song.

Schauen wir auf einige Songs auf Brothers & Sisters. Nehmen wir den Titelsong. Ein groovendes Soulstück, das von Curtis Mayfield inspiriert zu sein scheint. Außerdem höre ich eine Ahnung Diana-Ross-Motown.

Das höre ich nicht zum ersten Mal. Ich selbst kann keine Diana Ross in meiner Kehle entdecken. Aber so ist das oft: Leute kommen auf mich zu und haben diese oder jene Assoziation. Ich kann nicht immer etwas damit anfangen.

Vielleicht liegt es auch daran, dass Sie einst sogar mit Diana Ross selbst im Studio standen. Ganz frei machen von seiner Vergangenheit kann man sich wohl nicht.

Tja, vermutlich haben Sie recht.

„That Is You“ hat mich überrascht: Fast ein Popsong, im Stile von Level 42 oder von Maroon Five …

Ja, da haben wir mal die Pop-Qualitäten von Soul ausgelotet. Aber ohne Plan. Wir jammen, wir nähern uns, wir lassen den Song sich entwickeln.

Bei „If You Don’t Try“ spielen Sie Rock’n’Roll – und singen wie James Brown in seinen besten Tagen. Ein toller Song, muss ich sagen.

Danke! Ja, den mag ich auch. Vom Rhythmus her Rock’n‘Roll, vom Feeling her Funk. Und am Ende steht Michelle drauf. (lacht)

Auf Brothers & Sisters kommen Bläser zum Einsatz. Auf dem Album davor, Truth & Soul, waren es Streicher. So ganz mögt Ihr Euch nicht auf einen typischen Bandsound festlegen, oder?

Sind dafür Streicher oder Bläser ausschlaggebend?

Sie tragen dazu bei, ob man eher süßlich oder eher funky klingt, finde ich.

Das ergibt sich aber von alleine. Wir hatten bei einer unserer nur wenigen Songschreibsessions für Brothers & Sisters sofort gewusst: Da und dort müssen Bläser rein. Wo welche Instrumente diesen oder jenen Klang beisteuern müssen, während ein Song sich entwickelt, das ist keine bewusste Strategie nach dem Motto: Letztes Mal hatten wir Geigen, lasst uns nun die Posaunen auspacken.

Ist es nicht ein entscheidender Unterschied, in einem Studio bei roter Aufnahmelampe zu predigen und zu singen statt in einer vollbesetzten Kirche? Allein der Klangraum ist ein ganz anderer.

Sicher. Der größte Unterschied ist: In der Kirche ist es laut. Richtig laut! Dagegen muss man ansingen. Im Studio herrschen ganz andere Bedingungen. Ich bin allerdings dieselbe. Und wenn ich ansetze zu singen, meine Geschichten zu erzählen, und dabei nicht auf den Stuhl gefesselt werde (lacht), dann kann ich mich in eine Kirchensituation hineinversetzen. Aber ehrlich gesagt: Live bin ich am besten. Das sind die Momente, in denen die Magie geschieht.

Sie sind in New York aufgewachsen und besuchten die berühmte High School of Music and Art, vielen Menschen vertraut durch den Film Fame. Haben Sie auch in der Kantine gejammt und in der Rushhour auf der Straße?

Ja, so war’s tatsächlich. Die Schule ist ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Menschen, es mischten sich die Künste und die Genres. Da ging es oft hoch her, auch auf der Straße. Der einzige Unterschied zum Film war, wir sind nicht auf die Autos geklettert. Ich habe nie auf dem Dach eines Taxis gesungen.

Michelle David

Michelle David - FIDELITY-Interview

Michelle David wuchs im New York der späten sechziger, frühen siebziger Jahre auf. Bereits im Alter von vier Jahren begann sie im Gospelkirchenchor zu singen. Nach einer Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin tourte sie zunächst mit verschiedenen Gospelchören durch die Welt und wirkte in erfolgreichen Theatershows wie The Sound of Motown, Glory of Gospel und Mahalia mit und stand mit Diana Ross gemeinsam im Studio. Mittlerweile lebt sie in den Niederlanden, wo sie mit ihrer Band The True-tones (Gitarrist Paul Willemsen, Bassist Onno Smit und Schlagzeuger Bas Bouma) bereits sechs Alben veröffentlicht hat. Das neueste, Brothers & Sisters, erschien vor kurzem. Michelle David, 57, ist Mutter von vier erwachsenen Kindern.

www.michelledavidandthetruetones.com

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