Über die 45-RPM-Single

Über die 45-RPM-Single

Ein Blick in die Psyche eines Sammlers

Über die 45-RPM-Single

Ein Blick in die Psyche eines Sammlers oder: Wieso sammelt man kistenweise Platten, wenn sie am Ende kaum einmal auf den Teller wandern?

Über die 45-RPM-Single


Eine Kooperation zwischen FIDELITY und dem Copper Magazine

Der Originalartikel erschien im Copper Magazine, Ausgabe 207.

Larry Jaffee ist der Autor von Record Store Day: The Most Improbable Comeback of the 21st Century (Rare Bird Books, 2022). Weitere Informationen finden Sie unter www.larryjaffee.com.


Es braucht schon eine besondere Kistengräberlaune, um in einem Platten- oder Secondhand-Laden einen wahllosen Stapel verkratzter, teils hüllenloser 45-RPM-Singles nach Perlen zu durchwühlen, die der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen gleichen.

Im Januar 2021 eröffnete einen Block entfernt von meiner Wohnung in Upper Manhattan am Riverside Drive ein Pop-up-Store, der heute, dreieinhalb Jahre später, immer noch existiert. Er enthält die ehemaligen Besitztümer eines 2020 an COVID verstorbenen Sammlers von Büchern und Schallplatten aller Art. Auf dem Sterbebett spendete er seine Sammlung einer gemeinnützigen Buchhandlung.

Nach mindestens einem Dutzend Fahrten, die mir in den nächsten neun Monaten einige hundert LPs eingebracht hatten, wandte ich mich schließlich den 50-Cent-Singles zu, die sich als wahre Fundgrube an heißgeliebten One-Hit-Wonders aus den 1960er bis 1970er Jahren für sehr vernünftiges Geld entpuppten. Hier nur einige Beispiele unter den Dutzenden, die ich an jenem Tag kaufte und die meinen eklektischen Geschmack widerspiegeln: Mungo Jerrys „In the Summertime“; Tommy Edwards’ „It’s All in the Game“; The Marmalades „Reflections of My Life“; The Angels’ „My Boyfriend’s Back“; The Idles of March’s „Vehicle“; The Status Quos „Pictures of Matchbook Men“; The Crazy World of Arthur Browns „Fire“; David Essex’s „Rock On“; Billy Swans „I Can Help“; Roy Head’s „One Night“; Kim Carnes’ „Bette Davis Eyes“; und Abba-Mitglied Fridas Solohit „Something Going On“.

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Eine kleine Auswahl an Larry Jaffees Fundstücken.

Bei dieser mehrstündigen Marathonjagd im Pop-up-Store ergatterte ich auch alte Originalpressungen von Hits von Dauerbrennern wie „Something“/„Come Together“ und „I Want to Hold Your Hand“/„I Saw Her Standing There“ von den Beatles; Paul McCartney und Wings’ „Junior’s Farm“, „She’s Not There“ von den Zombies, „A Whiter Shade of Pale“ von Procol Harum und „What the World Needs Now“/„I’ll Never Fall in Love Again“ von Dionne Warwick. “

Die Ausbeute umfasste auch Fleetwood Macs „Dreams“/„Songbird“ und „Sara“/„That’s Enough for Me“ sowie einen Promo-Remix von „Sisters of the Moon“ der Band und eine um 26 Sekunden längere Version des Songs.

Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin gar kein Vollständigkeitsfanatiker, zumal fast alle diese Songs bereits auf LPs und CDs in meiner physischen Mediensammlung vorhanden sind.

Als ich als Teenager anfing, Platten zu sammeln, waren Singles wichtig, weil ich weniger Geld zur Verfügung hatte. Schon damals, im Jahr 1973, kaufte ich einen beliebten Hit, von dem ich im Top-40-Radio nicht genug bekommen konnte. Zu meinen ersten 45-RPM-Käufen gehörten „Hocus Pocus“ von Focus und „Roll Over Beethoven“ von ELO, die ich nach einem Streit mit meiner Mutter aus meinem Schlafzimmer schmetterte. Heute, ein halbes Jahrhundert später, beschränken sich meine 7-Inch-Käufe meist darauf, mir bis dato unbekannte Coverversionen oder kuriose Songtitel zu entdecken.

Als ich zum Beispiel letztes Jahr einen Laden in Newark, New Jersey, besuchte, unweit von meiner Lehrtätigkeit an der Rutgers University, fand ich B.B. Kings Interpretation von „Summer in the City“ von den Lovin Spoonful und „(Love Is Like a) Baseball Game“ von den Intruders, geschrieben von dem großartigen Songwriter-Team Gamble und Huff.

Was die 7-Inch-Single mit 45 Umdrehungen pro Minute während ihrer Blütezeit in den 1950er bis 1970er Jahren bot und in der CD-Ära weitgehend verloren ging, war die Möglichkeit für den Verbraucher, einen einzelnen Song zu kaufen – und dazu noch eine B-Seite mit Mehrwert zu erhalten.

Ironischerweise wurde die Single im digitalen Zeitalter durch iTunes von Apple Computer zurückgebracht, was durch die heutigen Streaming-Dienste auf eine rhetorische Frage hinausläuft:

Wieso ein ganzes Album kaufen, wenn man doch nur den Hit haben will?

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EMI in England hat das schon vor einem halben Jahrhundert verstanden, etwa zwischen 1963 und 1970, mit seiner ganzjährigen Flut von Beatles-Singles und EPs, während die listigen Amerikaner bei Capitol die ganzen Alben zerstückelten, um Lizenzgebühren zu sparen, und dann all die überschüssigen Tracks zu neuen LPs kompilierten (z. B. Yesterday and Today, Hey Jude). Und natürlich brachten die Amis auch jede Menge amerikanischer Beatles-Singles auf den Markt.

Meine 45er-Single-Sammlung beläuft sich auf vielleicht tausend Stück und verblasst deutlich gegenüber meinem wahllos katalogisierten Schatz von 4.000 LPs. Dazu kommen natürlich noch über tausend CDs, mindestens 500 Kassetten sowie hundert Musik-DVDs und VHS-Kassetten.

Mitte der 1970er Jahre kaufte ich einige Monate lang gelegentlich gebrauchte 8-Spur-Kassetten, weil der Gebrauchtwagen, den ich fuhr – ein blauer AMC Hornet – mit einem 8-Spur-Deck ausgestattet war. Auf Flohmärkten erstand ich Kuriositäten auf diesem Format, z. B. einen Zweierpack der Kinks mit The Kinks are the Village Green Preservation Society und Arthur oder Live at Max’s Kansas City von The Velvet Underground, den Lou Reed 2003 für mich signiert hatte. Aber dann wurden das Deck und die meisten Bänder gestohlen, und damit ließ ich die potenzielle 8-Spur-Obsession fallen. (Zum Glück waren die Velvets und die Kinks nicht im Hornet, und ich habe sie immer noch in meinem Besitz, ebenso wie Jimmy Cliffs Soundtrack zu The Harder They Come, ebenfalls aus dieser Sammelepisode).

Auf Plattenbörsen kaufte ich Sammlerlaserdiscs meiner Lieblingsfilme, z. B. Don’t Look Back von Bob Dylan oder Apocalypse Now von Francis Ford Coppola, obwohl ich nie einen Laserdisc-Player besaß – wie sie sehen, war ich schon immer formatunabhängig. Zu den wenigen physischen vorbespielten Medienformaten, die ich bis heute nicht gesammelt habe, gehören Edison-Zylinder und Reel-to-Reels.

Während der Blütezeit von iTunes habe ich nur dann ganze Alben heruntergeladen, wenn ich a) sofortige Genussbefriedigung brauchte oder b) die CD oder Schallplatte weder bei Amazon, eBay, oder anderen Online-Händlern noch in Ladengeschäften verfügbar war. Ich kann mich noch gut erinnern, wie frustriert ich 2011 war, als ich Robbie Robertsons damals neues Album How to Become Clairvoyant nur als digitalen Download bekommen konnte.

Doch zurück zu den 45ern: In den 1970er- und 1980er-Jahren waren die meisten meiner 7-Inch-Anschaffungen Reissues – oft mit doppelseitigen Hits oder Releases, die es nie auf ein Studioalbum geschafft haben, obwohl sie auf einer Greatest Hits-Compilation nicht fehl am Platz gewesen wären.

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Ein Beispiel, das mir in den Sinn kommt, ist „Ohio“ von Crosby Stills Nash & Young, das ich etwa vier Jahre nach seiner Veröffentlichung 1970 kaufte. Damals hatte ich gestaunt, dass sie immer noch in Sam Goodys schlanken 45er-Kisten zu finden war. Das offensichtliche Cover hätte das ikonische Foto des verzweifelten jugendlichen Ausreißers sein sollen, der über der Leiche eines der vier von Nationalgardisten getöteten Studenten der Kent State University steht, und nicht die unscheinbare Standardhülle, die das Label für die Wiederveröffentlichungen verwendete.

Die 45er-Singles in meiner Sammlung, die Bildhüllen haben, habe ich hauptsächlich wegen des Artefakts oder der Musik und nicht so sehr der Ästhetik wegen gekauft. Ich konnte zum Beispiel nicht widerstehen, die deutsche 45er-Pressung von „Whatever Gets You Through The Night“ und „Lucy in the Sky With Diamonds“ zu besitzen, die live bei einem Elton-John-Konzert im Madison Square Garden aufgenommen wurde und John Lennons letzten öffentlichen Auftritt markiert. Schade nur, dass das Foto von ihnen absolut grässlich ist.

Das bringt mich auf die 45er-Bildhüllen, die ich einmal in meinem Besitz hatte, jetzt aber nicht mehr: Bob Dylans „Hurricane“ etwa, für den damals inhaftierten Mittelgewichts-Boxchampion Ruben Carter (ein Foto von ihm zierte das Cover) oder Bob Marleys „Zimbabwe“ mit einem Foto von Joshua Nkomo. Nkomo führte eine Guerillatruppe an (der langjährige Simbabwe-Diktator Robert Mugabe führte die andere an), die das ehemalige, als Rhodesien bekannte, Apartheid-Regime stürzte. Diese Platte tauschte ich dummerweise mit einem unermüdlichen Marley-Sammler, der mich weichgeklopft und mir im Gegenzug ein Peter-Tosh-Songbook geschenkt hatte. Hätte ich diese seltene Single heute noch, ich würde sie einrahmen.

Apropos Reggae: Wenn ein Reggae-Künstler stirbt, kann ich Stunden damit zubringen, nach einer Single zu suchen, von der ich weiß, dass sie sich irgendwo in meiner ungeordneten Sammlung befinden muss. So etwa geschehen bei Lee Perry, dessen 45er von „Return of Django“ und „Iron Fist“ auf meinem Plattenteller landete, um mich zu einem Facebook-Tribut-Post zu inspirieren.

Um ganz ehrlich zu sein: Das Stöbern nach Singles – egal, ob in 7- oder 12-Zoll – erfordert eine Menge Geduld und Leidensfähigkeit (Discogs ist eine Ausnahme). Noch mehr Geduld und Leidensfähigkeit braucht man, um sie abzuspielen, vor allem auf einem manuellen Plattenspieler. Klar, 78-RPM-Sammler müssen noch mehr auf sich nehmen, bevor Musik aus ihren Lautsprechern dringt.

Ich rede mir immer wieder ein, dass ich in diesen Kaninchenbau der 45-er-Sammelei eintauche, um mir irgendwann den langersehnten Traum einer Jukebox zu erfüllen. Realistisch betrachtet habe ich in meiner ohnehin schon extrem beengten Wohnung aber keinen Platz für eine Jukebox. Ich denke auch nicht, dass meine Nachbarn das Mehr an Klangtreue zu schätzen wüssten, das dann durch die Wände dröhnen würde. Dazu kommt, dass ein Freund von mir eine Jukebox besitzt und mir mal erklärt hat, dass man für Exemplare in gutem Zustand, das keine Ersatzteile brauchen, mindestens 7000 Dollar berappen müsste.

Und dennoch schaue ich mir regelmäßig die eBay-Angebote an und fantasiere vor mich hin – wäre das nicht ein guter Grund, in ein abgelegenes Haus irgendwo im Nirgendwo zu ziehen? Sag niemals nie: Was tun wir nicht alles für die Liebe zur Musik!

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Unser herzlicher Dank geht an das Copper Magazine

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