FIDELITY zu Gast bei … Village Vanguard, New York
Unser Autor Roland Schmenner hatte während eines Familientrips nach New York nicht nur Gelegenheit, den weltweilt berühmtesten Jazzclub zu besuchen, sondern konnte auch mit Inhaberin Deborah Gordon über die Geschichte des Clubs plaudern.
Spricht man über das Village Vanguard, so muss man auch über das West Village westlich und östlich der 7th Avenue zwischen dem Washington Square und der legendären Christopher Street sprechen. Hier war in den 1970er Jahren der Hotspot des New York Underground, das Mekka der politischen und künstlerischen Avantgarde. Heute sind auch hier die Spuren der allgegenwärtigen Gentrifizierung nicht zu übersehen. Auch wenn die 7th Avenue – vor allem nach Sonnenuntergang – immer noch eine eher spröde Anmut ausstrahlt, so sind die Nebenstraßen merklich bürgerlicher geworden. Die Brownstones sind schick renoviert und werden mal eben – wie das Appartement von Taylor Swift in der Cornelia Street – für lockere 18 Millionen Dollar vermakelt. Da wundert es auch nicht, dass die Nachbarschaft auf Straßenplakaten um die Einhaltung von Ruhezeiten bittet, während man zuvor in der angesagten Designer-Boutique einen Hoodie für 300 Dollar erstanden hat.
Vor diesem Hintergrund des städtebaulichen Wandels ist es bemerkenswert, dass das Village Vanguard wie ein Fels in der Brandung bislang allen Veränderungen ringsum widerstand und seit bald 90 Jahren seinen Platz behauptet. Hat man diese Jahreszahl einmal verinnerlicht, geht man mit einer gewissen Ehrfurcht die steile Kellertreppe hinunter, die in den heiligen Gral des amerikanischen Jazz führt. Unten angekommen, verliert sich aber alsbald jede Scheu vor dem traditionsreichen Ort, so unprätentiös erscheint das Interieur des Clubs, so locker gestaltet sich der Empfang. Einzig die knallbunten Wandmalereien an der Bühnenseite erinnern ein wenig an die wilde Aufbruchsstimmung der 70er Jahre, während die Originalfotografien von John Coltrane und Co. darauf hinweisen, wessen Geist hier weht. Und diese musikalische Tradition ist es, die das Vanguard bis heute prägt, geht es doch ausschließlich um Musik. Während die anderen großen Club-Namen wie das Birdland oder das Blue Note längst die Unsitte des Table-Dinings eingeführt haben und der Abend eher zu einem teuren Gesamtevent wird, rühmt sich das Vanguard, dass es keinerlei Speisen gibt, „not even a peanut“, wie auf der Homepage zu lesen ist. Dafür orientieren sich die Getränkepreise eher am unteren Limit der New Yorker Bars, und vor Konzertbeginn wird ausdrücklich um Ruhe gebeten, Handy- und Fotografierverbot inklusive – just music!
Wir sind vor dem Konzert des legendären Vanguard Orchestras mit Geschäftsführerin Deborah Gordon verabredet, die uns netterweise ein längeres Interview gibt und uns auch einen Blick hinter die Kulissen werfen lässt. Der Club wurde von ihrem Vater Max Gordon gegründet, der zu einem der einflussreichsten Jazz-Impresarios des 20. Jahrhunderts zählt. Ursprünglich als Club für Folk und Kabarett gedacht, in dem dann so illustre Berühmtheiten wie Woody Guthrie oder Harry Belafonte auftraten, wandelte sich das Village Vanguard im Laufe der Jahre zu einem reinen Jazzclub. Seit 1957 sind hier Jazzgrößen wie Sonny Rollins oder John Coltrane aufgetreten, heute sind es Steve Coleman oder Vijay Iyer. Das Vanguard war von Beginn an immer eine Familienangelegenheit. Als Max Gordon 1989 starb, übernahm seine Frau, Lorraine Gordon, das Tagesgeschäft. „Nach dem Tod meines Vaters machte meine Mutter das Vanguard gleich am nächsten Abend wieder auf“, sagt Deborah Gordon. Lorraine Gordon starb 2018, und Deborah Gordon leitet den Club seither.
Dass das Vanguard als der Jazzclub schlechthin gilt, ist mit Sicherheit dem boomenden Markt des Jazz-Vinyls in der 1960er Jahren geschuldet. 1957 legte Sonny Rollins legendäre Blue-Note-Veröffentlichung Live At The Village Vanguard den Grundstein für den Erfolg der Vanguard-Aufnahmen, der alsbald in den Jahren ab 1960 eine wahre Explosion an Veröffentlichungen folgen sollte, von Kenny Burrell bis zu Cannonball Adderly und John Coltrane. Mittlerweile ist locker eine dreistellige Zahl an Tonträgern veröffentlicht worden, zuletzt im Herbst 2023 das beinahe schon rockige Album Undercover des Gitarristen Kurt Rosenwinkel. Hinzu kommen etliche Aufnahmen, die nie für den großen Markt bestimmt waren, sondern nur im kleinen Kreis vertrieben wurden. Das Village Vanguard ist auch nicht Herausgeber der Aufnahmen, sondern tritt lediglich als Vermieter des Clubs und des Equipments auf. Auch bei unserem Besuch stand eine Aufnahmesession an: Die Konzerte des Vanguard Orchestras wurden mitgeschnitten, wofür immerhin 32 Mikrofone über der Bühne und im Publikum verteilt waren.
Deborah Gordon war so nett, uns einen Blick hinter die Kulissen werfen zu lassen: „Als Autoren eines High-End-Magazins interessiert ihr euch doch sicherlich für das Aufnahmestudio.“ Mit einem verschmitzten Lächeln fügte sie noch hinzu, man solle aber nicht zu viel erwarten, und lotste uns in einen versteckten Raum, der irgendwie so ganz und gar nicht nach Aufnahmestudio aussah. Dies sei der „Mehrzweckraum“, so Gordon, und zeigte rechter Hand auf die Spülmaschine für die Gläser, linker Hand auf einen kleinen Cateringbereich für die Musiker, und ganz hinten in der Ecke fanden wir dann hinter einem Berg von Kabeln die beiden Aufnahmetechniker des Clubs an einem Laptop sitzen. „Wir kommen in der Regel so auf zehn bis zwölf Aufnahmesessions im Jahr“, erklärten sie uns; meist hätten sie freie Hand bei den Aufnahmen, schließlich würden sie sich mit den akustischen Besonderheiten des Raums bestens auskennen. So waren die beiden auch in der Pause zwischen den Sets dabei zu beobachten, wie sie nochmals Feintuning bei der Mikrofonierung betrieben. Überhaupt die Akustik: Der Raum ist merkwürdig keilförmig, beinahe dreieckig geschnitten, die Decken sind niedrig und die Stühle eng gestellt. Und dennoch ist die Akustik, selbst bei übervoller Bühne mit 17 Musikern, grandios. Bis heute frage ich mich, ob dies trotz oder gerade wegen des besonderen Raumzuschnitts der Fall ist.
Bei aller Bekanntheit des Clubs sollte man nicht den Fehler begehen, zu glauben, dass das Tagesgeschäft einfach sei. Deborah Gordon erzählt uns von den einzelnen Stammgästen, die tatsächlich seit 1965 auch jetzt im betagten Alter das Vanguard mindestens einmal in der Woche aufsuchen, aber das täusche leicht darüber hinweg, dass die Jazz-Szene – selbst in New York – ein kleines versprengtes Häufchen sei. So kämen bei den Konzerten des Vanguard Orchestras zwar viele junge Musikstudierende, da die Bandmitglieder häufig am Lincoln Center unterrichteten, ansonsten aber richte sich das Publikum nach den jeweiligen Künstlern. Und natürlich seien auch Touristen eine wesentliche Zielgruppe: „Für viele gehört neben der Freiheitsstatue und dem Empire State Building auch der Besuch eines berühmten Jazzclubs zum Pflichtprogramm.“ Da buhle man natürlich mit den anderen großen Clubs in Manhattan um das Publikum. Auf unsere Frage, wie sich das Verhältnis etwa zum Birdland oder zum Blue Note gestalte, gibt sich Deborah Gordon entspannt, ja generös: „Wir gönnen uns gegenseitig den Erfolg, denn jeder ausverkaufte Jazzclub ist ein Zeichen, dass die kleine Jazz-Szene noch lebt.“ Auf unsere Nachfrage, ob man sich in schwierigen Zeiten auch gegenseitig helfe, wird dann aber der Kopf geschüttelt: „So weit geht die Freundschaft doch nicht. Wir arbeiten im gleichen Business, haben die gleichen musikalischen Vorlieben, aber wir sind eben auch Konkurrenten, die alle mit einer eigenen Geschichte und einem eigenen Konzept agieren.“
Dass die Szene auch im Vanguard klein ist, erkennt man an den vielen Umarmungen und Gesprächen zwischen den Musikern, dem Publikum und Gordons Mitarbeitern; man kennt sich, man schätzt sich. Vermutlich ist es gerade diese intime und bisweilen familiäre Atmosphäre des Clubs, die seinen Erfolg ausmacht. Deborah Gordon verabschiedet uns noch persönlich mit Handschlag, ehe wir hungrig in die kalte, klare Nacht des West Village eintauchen und eine weitere alteingesessene und von der Gentrifizierung unbeleckte Institution aufsuchen. Unweit des Washington Square Parks bewirtet man seit 1977 im Lanterna di Vittorio Gäste wie Yoko Ono oder Taylor Swift, aber das wäre nun eine weitere Geschichte rund um die künstlerische Boheme des West Village.
Village Vanguard
178 7th Avenue South, New York
NY 10014
United States