Die vielen Facetten des Michel Wintsch
Er ist Jazzpianist, Rock-Keyboarder, Songwriter, Elektronik-Experimentator, Film- und Theaterkomponist. Festlegen lässt sich Michel Wintsch nur schwer.
Seine musikalische Sozialisation war typisch für einen mitteleuropäischen Jugendlichen der Boomer-Generation. Der Klavierunterricht langweilte ihn eher, aber progressive Rockmusik – von Bands wie Genesis und Yes – hat ihn früh begeistert. Davon wurde die Lust auf weitere musikalische Entdeckungen geweckt: Schon als Teenager hörte Michel Wintsch auch Giganten des Jazzpianos. Und er begann tiefer zu graben: „Den neueren Jazz entdeckte ich allein. Ich machte mich immer auf die Suche, wenn ich interessante Musikernamen aufschnappte: Miles Davis, John Coltrane, Charles Mingus.“ Mit 15 war ihm das Klavier nicht mehr genug; er schaffte sich einen Moog Prodigy an, dann immer mehr elektronische Keyboards. Mit 19 gründete er eine eigene Rockband – sie hieß Monkey Touch. Und dann kam noch die Welt der Neuen Musik dazu: „Das meiste habe ich mir selber beigebracht“, sagt Wintsch. Schließlich war für seine Generation alles gut greifbar: Lehrbücher, Partituren, Aufnahmen.
So individuell wie sein Werdegang ist seine Auseinandersetzung mit moderner Konzertmusik. Der Genfer hat für das Album Autour de Bartók (1994, Unit) sieben kleine Stücke von Béla Bartók – vor allem aus dem Klavier-Lehrwerk Mikrokosmos – für ein Sextett bearbeitet.
Die dynamische Instrumentierung mit Violine, zwei Posaunen, E-Bass, Schlagzeug und Klavier (oder Akkordeon) gibt den Stücken einen völlig neuen Charakter. In weiteren zehn (ebenfalls kurzen) Titeln präsentiert Wintsch in Bartóks Geist eine eigene, originelle Sextettmusik zwischen Kammerensemble, Jazzrock, Minimal Music und imaginärer Folklore. Der Kritiker Thom Jurek schreibt dazu: „Die bulgarischen Folk-Traditionen werden in einen Trance-Groove übersetzt, während die Posaunen effektvolle und eindringliche Kontrapunkt-Figuren dazuerfinden … Nie wurde Bartók mit so viel Vulgarität, Humor und gutem Geschmack behandelt. Bravo.“ Teil des Programms ist auch eine dreisätzigeSuite für Klavier solo. Wintsch nennt sie übermütigerweise „If de Quamba“ – das steht für „Improvisation en Forme de Question à Monsieur Bartók Absent“.
Sein jazzigstes Format ist das Pianotrio mit Bass und Schlagzeug – zum Beispiel auf dem Album Identity (1999, Leo).
Da hört man erst, was für ein sagenhafter Pianist dieser Michel Wintsch ist: zweihändig virtuos, sprudelnd in der Improvisation, mit erdigem Groove, aber einer modernistischen Abgeklärtheit. Stücke wie „Holy Mess“ und „NT“ besitzen zeitweise den kantig-verqueren Swing eines Thelonious Monk, während „Anne-Marie S.“ und „Looking For Rest“ freitonale Kontrapunkt-Etüden sind – fast wie eine Kreuzung aus Webern und Mozart, meint der Kritiker Robert Spencer. Er schreibt: „Die Instrumentierung und der große Vorwärtsdrang des Albums kommen aus der Jazztradition, aber sonst mag diese Musik mehr der modernen Klassik verpflichtet sein.“ Spannung und Lyrik, Technik und Raum halten sich hier die Balance. Wintschs Mitstreiter sind Gerry Hemingway (Schlagzeug) und Bänz Oester (Bass) – aus den Anfangsbuchstaben der drei Nachnamen ist der Bandname WHO entstanden.
Für seinen stilistisch vielseitigen Ansatz hat Wintsch schon früh (mit 25 Jahren) die ideale Ausdrucksform gefunden: Film- und Theatermusik. Vor allem Filme von Antonioni oder Kubrick haben ihn geprägt. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Anfragen von Regisseuren entwickelte er als Komponist und Performer eine enorme Bandbreite. Wintsch liebt es, Instrumentierungen und Stile auf dynamische und dramatische Weise zu vermischen – man könnte beinahe von einer eigenen musikalischen Form sprechen. In diesem Sinn entstand das Album Road Movie (1999, Between The Lines) als multistilistische „Filmmusik“ – nur dass dieser Film fiktiv ist.
Zehn Akteure – darunter Jazzgrößen wie Peter Schärli, Martin Schütz, Lucas Niggli und Gerry Hemingway – scheinen hier die Idee des „Third Stream“ wiederzubeleben: mit der Energie des Jazz und der Soundtextur moderner Kammermusik. Der Puls erinnert zuweilen an Minimal Music, und die Instrumente kommen und gehen wie Figuren in einem Film. „Im Verlauf der Musik“, schreibt der Kritiker Glenn Astarita, „gibt es einen robusten Backbeat oder wogende Rhythmen, nervöse Improvisation, grandiose Passagen, knackige Kreiselfiguren vom Pianisten Wintsch oder scharfkantiges E-Gitarrenspiel nach Art von Fred Frith.“