News For Lulu
Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.
In den 1980er Jahren lagen die ollen Fünfziger weit genug in der Vergangenheit, um wieder „chic“ werden zu können. Herrenhüte, Schulterpolster, Nierentische, Lackschuhe und der Rock’n’Roll – sie feierten in den Achtzigern ein seltsames, postmodern gebrochenes Comeback.
Auch der Jazz war betroffen. Plötzlich waren die alten Jazzsounds wieder angesagt, in den Diskotheken liefen sogenannte „Rare Grooves“, und die Albumhüllen von ca. 1957 inspirierten reihenweise junge Designer. 1986 schrieb der Journalist Steve Lake: „Englische Hochglanzmagazine stürzten sich auf den Jazz, als sei er ein Gottesgeschenk. Ein ‚Look‘ wurde kultiviert. Dazu brauchte man allerlei Accessoires. Schwarze Rollkragenpullover und Dufflecoats, ausgebeulte Hosen und vielleicht noch ein Blue-Note-Album unter dem Arm.“ In der Jazzwelt war der alte Hardbop, dieser erdige, groovige, gospelige Jazz der späten 1950er Jahre, mit einem Mal wieder präsent. In den 1970ern hatte ihn keiner vermisst: Da galt Hardbop noch – wenn man sich überhaupt an ihn erinnert hat – als veraltete Mode, konventionell und gleichförmig, eine Massenware von anno dazumal. Aber dann kam er zurück, der sprichwörtliche Blue-Note-Sound, und wirkte wie von neuer Bedeutung erfüllt. Sogar Blue Note selbst, das halb vergessene Label, wurde 1985 neu gegründet.
Mittendrin im Hardbop-Revival steckte erstaunlicherweise auch John Zorn, New Yorks berüchtigter Avantgardist, bekannt für lärmige und schrille Musikexzesse. Ausgerechnet dieser John Zorn reaktivierte damals den Hammondorganisten „Big“ John Patton, einen legendären Blue-Note-Veteranen, und machte mehrere neue Alben mit ihm. Ausgerechnet dieser John Zorn übernahm auch den Saxofon-Job im sogenannten Sonny Clark Memorial Quartet, das sieben Stücke des jahrzehntelang unterbewerteten Fifties-Pianisten Sonny Clark aufnahm. Ausgerechnet dieser John Zorn entwickelte in den Achtzigern eine echte „Obsession für die Meisterwerke des Hardbop“, wie der Journalist Peter Watrous schrieb. Denn Zorn verstand die groovigen Stücke aus Blue Notes goldener Ära keineswegs als gleichförmige Massenware. Er schätzte sie vielmehr als kleine, konzise Kompositionsjuwelen. Er half mit, eine Schatzkiste zu öffnen, die sich bis heute nicht mehr geschlossen hat.
Zorns stärkste Argumente für die Kompositionsästhetik des Hardbop lieferte er auf News For Lulu. Das Album präsentiert 16 ausgewählte Kompositionen von vier Hardbop-Größen: dem Trompeter Kenny Dorham, dem Saxofonisten Hank Mobley und den Pianisten Sonny Clark und Freddie Redd.
Diese Kompositionen waren Ende der 1980er Jahre weitgehend vergessen, die Originalplatten seit 20 Jahren vergriffen. Zorn präsentiert diese Stücke, als wären sie ganz neu und unverbraucht. Er spielt sie nicht im Hardbop-Sound, nicht mit groovender Rhythmusgruppe, sondern in einer riskanten Trio-Konstellation aus Altsaxofon (John Zorn), Posaune (George Lewis) und E-Gitarre (Bill Frisell). Die drei improvisieren swingend im Verbund, mal schlank und kühl wie einst das ähnlich besetzte Jimmy Giuffre Trio, dann wieder laut und grell wie der Free-Jazz-Meister Ornette Coleman, aber immer in kompakten Portionen von drei bis vier Minuten, dabei klaren Linien folgend, eine „preziöse Ausformung und Verfeinerung“ (Jürg Laederach) anstrebend. Das ist virtuoser Kammerjazz post Free. Die zeitlose Essenz des verblichenen Hardbop.
Zorn, Lewis, Frisell – News For Lulu auf discogs.com