Andrew Hill – Point of Departure
Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.
Dieses Album umgibt ein besonderer Nimbus. Es ist eine der letzten Studioaufnahmen, die der legendäre Eric Dolphy in den USA gemacht hat. Nur wenige Tage später reiste er mit Charles Mingus nach Europa, wo er im Juni 1964 verstorben ist. Point Of Departure gilt zudem als Andrew Hills bestes und wichtigstes Album – der Pianist musste sich sein Leben lang daran messen lassen. Noch 36 Jahre später hat er mit neuem Personal diese Sextett-Instrumentation wieder aufleben lassen – Marty Ehrlich gab den Dolphy-Vertreter. Für die Kritiker ist Point Of Departure „eines der sehr großen Jazzalben der 1960er Jahre“ und eine „bemerkenswerte Session, die noch immer Avantgarde-Qualität besitzt“. Thom Jurek von AllMusic spricht von einem „herausragenden Treffen“, einer Platte, „die auch im 21. Jahrhundert noch in die Zukunft weist“.
Beginnen wir beim Allstar-Personal. Der Bebop-Veteran Kenny Dorham war einer der führenden Hardbop-Trompeter, und Joe Henderson war ein hell aufsteigender Saxofon-Stern. Andrew Hill wusste damals schon: „Joe wird einer der größten Tenoristen werden.“ Diese drei verbindet auch eine besondere Geschichte: Dorham war es, der Henderson 1963 ans Label Blue Note vermittelt hat – und Henderson wiederum spielte dieselbe Rolle für Hill. Der dritte Bläser auf dem Album ist eben der legendäre Eric Dolphy (Altsaxofon und Bassklarinette), und mit ihm kam das Rhythmusduo Richard Davis (Bass) und Tony Williams (Schlagzeug) in die Band – beide hatten einen Monat vorher auf Dolphys Meisterwerk Out To Lunch gespielt.
Dann die Stücke. Fünf Kompositionen hat Andrew Hill für die Session geschrieben – mit innovativen Formideen, polyphon verzahnten und verwinkelten Melodien und satirischen Stakkato-Figuren. Der Opener „Refuge“ ist ein herausforderndes 12-taktiges Thema, das sich weit vom Blues entfernt. (Wegen seiner triolischen Begleitung könnte man es auch als 36-taktigen Walzer hören.) „New Monastery“ erinnert an die Eckigkeit von Thelonious Monk und hat einen 11-taktigen Chorus mit Marsch- und Ragtime-Feeling. „Spectrum“ ist ein vielteiliges Stück mit wechselnden Metren und Haltungen. In „Flight 19“ reihen sich schnelle und langsame Takte aneinander, und das abschließende „Dedication“ erinnert an eine düstere Ballade mit Trauermarsch-Charakter.
Schließlich die Ausführung. Andrew Hills Musik reflektiert die harmonischen Befreiungsschläge im Jazz der 1960er Jahre. Die Stücke lösen sich von klaren Akkordfolgen zugunsten von modalen Konzepten und tonalen Zentren. Teilweise können die Solisten ihre harmonische Marschroute individuell wählen – jedes Solo wird zum eigenständigen künstlerischen Statement. Hills Klavierspiel gibt dabei die Richtung vor: Es ist zugleich lyrisch und verzwickt, swingend und tonal befreit. Tony Williams trommelt rhythmisch entfesselt, aber markiert „nicht die Time im strengen Sinn“. Es gibt bei den Bläsern ein paar Unsauberkeiten, aber die experimentelle Energie ist echt.
Erst nachträglich erhielten die Stücke und das Album ihre endgültigen Titel. Der Trauermarsch „Dedication“, so sagt Hill, sei niemandem Besonderen gewidmet, drücke aber das Gefühl eines großen Verlustes aus. Als die Platte erschien, war Eric Dolphy nicht mehr am Leben.
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