Dave Brubeck Octet
Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.
Der französische Komponist Darius Milhaud (1892–1974) war ein ausgesprochen weltoffener Musiker. Schon 1916 ließ er sich in Rio de Janeiro vom Samba inspirieren, 1922 studierte er den Jazz in New Yorker Clubs. Ein Leben lang interessierte sich Milhaud für außereuropäische Rhythmen und exotische Tonleitern, für Kontrapunktik, Bitonalität und Polymetrik. Entsprechend eklektisch und global waren auch die Kompositionsaufgaben, die er seinen Studenten am Mills College in Oakland (Kalifornien) stellte. Sein wichtigster Rat an sie: „Bereisen Sie die Welt und halten Sie die Ohren offen!“
Als Milhaud eines Tages erfuhr, dass fünf seiner Studenten in ihrer Freizeit auch Jazz spielten, ermunterte er sie, die Kompositionsaufgaben doch in Jazzstücken zu lösen – dafür regte er sogar die Gründung einer Jazzband an. Die fünf Studenten verstärkten sich daraufhin mit drei externen Musikern zu einem Oktett, das sich „The 8“ nannte oder „The Jazz Workshop Ensemble“, und Milhaud persönlich organisierte den ersten Auftritt. Namhafte Jazzmusiker – darunter Duke Ellington und Charlie Parker – sollen Konzerte der „8“ besucht haben. Zwischen 1946 und 1950 entstanden auch Tonaufnahmen mithilfe eines tragbaren Acetat-Recorders. Als der Pianist der Studentenband ein paar Jahre später weltberühmt wurde, hat man sie ausgegraben und unter seinem Namen veröffentlicht – als Dave Brubeck Octet.
„Wir waren Experimentatoren“, erklärte Brubeck zu diesen Aufnahmen. „Kontrapunkt war der charakteristische Zug des Oktetts. Wir erforschten Polytonalität, Polyrhythmik, diverse Rhythmen und neue Formen.“ In der Tat: Angeregt von ihrem Lehrer Milhaud, schufen die jungen Musiker komplex verzahnte Arrangements von Jazz-Standards. In „The Way You Look Tonight“ wickelt Brubeck die Bläserstimmen fantasievoll umeinander, schichtet Melodie, Kontrapunkt, Paraphrase und Harmonik zu einer elegant swingenden Architektur. Der Saxofonist Dave Van Kriedt liefert eine „Fugue On Bop Themes“, die sich gut für ein Fragespiel eignen würde: Wer erkennt die meisten Charlie-Parker-Zitate? Eine Sieben-Minuten-Version von „How High The Moon“ demonstriert (mit didaktischem Kommentar!) die Metamorphosen einer Melodie: vom Klavierstück über Dixieland und Bebop bis hin zur Bach/Brubeck-Fugenversion. Die Musikstudenten fertigten auch eigene Stücke, etwa ein „Schizophrenic Scherzo“ im 7/4-Takt oder ein „Rondo“, das fast nach einer Kammermusik-Parodie klingt.
Einige Jahre später sollten solche Verbindungen aus swingendem Jazz und klassischen Techniken recht populär werden – besonders in Kalifornien. Die Studentenband des Mills College mit ihren fünf Bläsern war die Blaupause für viele „coole“ Oktett-, Nonett- und Tentett-Besetzungen. Insofern könnte man Darius Milhaud, den Emigranten aus der Provence, auch den Paten des Westcoast-Jazz nennen. Dave Brubeck jedenfalls hat Milhauds Lektionen ein Leben lang beherzigt und das Experimentieren mit Kontrapunktik, Metren und Tonalitäten zur Grundlage seiner Musik gemacht. Milhaud ahnte wahrscheinlich, welche Talente in seinem Studenten schlummerten. „Sie müssen tun, was in Ihnen steckt“, soll er zu Brubeck gesagt haben. „Sie sind für den Jazz geboren.“
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