Deutsche Grammophon Vierspuraufnahmen
Die Deutsche Grammophon demonstriert erstmals die Qualität ihrer vergessenen Vierspuraufnahmen.
Freunde des Vinyls sind meist auf der Suche nach dem „Original“, nach einem geheimnisvollen Produktionsursprung, der vermeintliche Authentizität und sagenumwobene Soundqualität verspricht. Müßig zu erwähnen, dass hier meist der Wunsch Vater des Gedankens ist, aber hin und wieder wird man auch als erfahrener Vinylist überrascht. In unserem Falle heißt die Überraschung „Deutsche Grammophon“. Das Klassik-Label, das für so illustre Namen wie Karajan, Abbado oder Kleiber steht, ist zwar für seine interpretatorischen Maßstäbe bekannt, klangliche Überfliegeraufnahmen sind allerdings etwas rarer gesät, es soll gar audiophile Nerds geben, die eher einen Bogen um DG-Aufnahmen machen. Häufig wird dann angemerkt, dass es keinen spezifischen Label-Sound, wie etwa den Decca- oder Mercury-Sound, gäbe. Nun aber werden wir eines Besseren belehrt.
Bereits 1970 begann die Aufnahmeabteilung der DG mit der Produktion für quadrofonen Surroundsound. Das Aufnahmeformat war ein analoges Vierspurband mit linken, rechten, vorderen und hinteren Kanälen. Nach Abschluss der Aufnahmen wurden diese Vierspurbänder im Studio bearbeitet. Damals gab es jedoch noch kein Format, das für die quadrofonische Wiedergabe geeignet war. Man veröffentlichte diese Aufnahmen natürlich in Stereo. Zu diesem Zweck mussten die Techniker einen Stereo-Downmix des Vierspur-Masterbandes erstellen, der später auch vornehmlich für die CD-Überspielung genutzt wurde. Ein Workflow durch mehrere Hände verhinderte zudem eine einheitliche Klangqualität.
Nun hat man sich aber jener Vierspurbänder erinnert und die Emil Berliner Studios und dessen Mastermind Rainer Maillard beauftragt, diese versunkenen Schätze erstmals auf Vinyl zu veröffentlichen. FIDELITY hatte das große Vergnügen, einen Nachmittag lang mit Rainer Maillard dem Masteringprozess nachzuspüren, das spezielle Equipment des Hauses zu inspizieren und einen Einblick in die umfassenden Produktionsprotokolle zu werfen. Zunächst wurde uns das Grundproblem der Vierspurbänder erläutert: Erstens ist das Vierspurband doppelt so breit wie das übliche Zweispurband, weshalb man eine spezielle Bandmaschine benötigt, die in der Lage sein muss, ein sogenanntes Preview-Signal zu liefern, das es der Plattenschneidemaschine ermöglicht, eine perfekte Rille in die Platte zu schneiden. Zudem müssen die vorderen und hinteren Kanäle in Echtzeit und rauschfrei auf Stereo heruntergemischt werden, weshalb dieses Projekt ein völlig neues, speziell angefertigtes Mischpult erforderte. Die in den Emil Berliner Studios eingesetzte Tonbandmaschine, eine Studer A80, stammt aus dem ehemaligen Aufnahmezentrum der DG in Hannover.
Für die „Original-Source“-Serie erfolgte 2022 eine Modifizierung mit dem Einbau von zwei neuen Vierspur-Bandköpfen und zusätzlichen Wiedergabeverstärkern für Vorschau- und Modulationskanäle. Das Bindeglied zwischen der Vierkanal-Aufnahme und der Stereo-LP ist ein speziell angefertigter passiver Kanalmischer. Im Signalweg folgt eine seltene Georg Neumann SP79 als Masteringkonsole für die analoge Signalverarbeitung. Um das Audiosignal für den Schnitt vorzubereiten, können analoge Effektgeräte in den Signalweg eingefügt werden. Diese werden, wenn überhaupt, nur sparsam eingesetzt.
Die erste Charge der Veröffentlichungen enthält Beethovens Siebte Sinfonie mit Carlos Kleiber, Mahlers Fünfte Sinfonie mit Karajan, Strawinskys Le sacre du printemps mit Abbado und Schuberts Forellenquintett mit Emil Gilels und dem Amadeus-Quartett. Highlight ist hier zweifellos das ungestüme und stahlgewitternde Sacre mit dem jungen Abbado und dem London Symphony Orchestra, dessen Produktion wir mit Rainer Maillard etwas genauer durchgegangen sind. Das im Prinzip hervorragende Vierspur-Ausgangsmaterial kränkelt ein wenig unter den akustischen Bedingungen des Aufnahmeorts. Die Fairfield Hall in Croydon ist für ihre staubtrockene Akustik berüchtigt, die zwar transparente und trennscharfe Aufnahmen erlaubt, aber immer eine Nachhall-Bearbeitung benötigt, womit wieder die Emil Berliner Studios ins Spiel kommen: Das Hinzufügen von künstlichem Hall zu einer bestehenden Aufnahme ist kein neues Konzept, es war bereits bei den Originalabmischungen der 1970er Jahre gängige Praxis. Heute verwenden die Emil Berliner Studios eine 400 Kubikmeter große Echokammer, die direkt mit dem Masteringpult verbunden ist. Durch den Einsatz einer zweiten Bandmaschine als analoges Tape Delay kann eine beliebige Vorverzögerung des Halls erzeugt werden. So wird die ursprüngliche Brutalität von Abbados Strawinsky-Interpretation ein wenig abgemildert, die Aufnahme atmet aber auf einmal vernehmlich, plötzlich wird zwischen den Instrumentengruppen, vor allem in der Tiefe, ein akustischer Raum hörbar.
Aber auch die Vinylpressung selbst wurde gegenüber der Ausgabe von 1976 modifiziert. Nutzte die ursprüngliche Pressung eine gleichmäßige Rillenverteilung über die gesamte Seite, so hat man sich nun bewusst für eine etwas engere Rillenführung entschieden, die dafür sorgt, dass die brachialen Orchesterorgien am Ende der beiden Balletteile sich noch weitgehend in der Mitte des Vinyls abspielen und nicht in den kritischen Innenrillen. Hier merkt man, dass der Workflow in einer einzigen Hand bleibt und Rainer Maillard, gemeinsam mit seiner Kollegin Sidney C. Meyer, sich nicht scheut, unkonventionelle und technisch riskante Schritte zu gehen, um das audiophile Potenzial der Vierspurbänder konsequent zu nutzen. Gespannt darf man auch auf die im Herbst und Winter anstehenden Veröffentlichungen des Verdi-Requiems mit Karajan und Holsts The Planets mit William Steinberg sein. Die bereits gemasterten Ausschnitte, die wir vorab hören durften, faszinierten mit einer deutlich gesteigerten Dynamik, einem breiteren Stereopanorama und einem wunderbaren Ausklingen von Schlussakkorden, die dafür sorgen, dass man alsbald doch von einem DG-Sound sprechen wird, von einem Vierspur-DG-Sound made by Emil Berliner Studios.