Rolling Stones versus KGB
Die Rolling Stones hatten 1969 eine enorm produktive Zeit: Einfälle am Fließband – „songs were coming“.
Mick Jagger und Keith Richards steckten fast immer zusammen und inspirierten einander kreativ. Richards erzählt, Jagger habe nur ein Stichwort gebraucht, um loszufantasieren: „Man lässt ihn einfach machen und nimmt sich dann ein paar Worte davon und baut daraus einen Song.“ Jaggers Gesang ist zuweilen tief im schmutzig-rauen Soundmix versteckt, natürlich nuschelt er auch auf seine spöttisch-schläfrige Art. „Viele Leute beschweren sich, dass sie die Stimme nicht richtig hören“, meint Richards. „Wenn die Worte zu verstehen sind, ist es gut, wenn nicht, ist es auch gut, weil sie ohnehin sehr Verschiedenes bedeuten können.“ Die Botschaft kam jedenfalls rüber. „Let It Bleed“ handelt von Gewalt, Sex und Blut. „Es war eine sehr gewalttätige Zeit“, sagt Jagger. Krieg in Vietnam, Rassenunruhen in den USA, Mordfantasien. Vielleicht ganz gut, dass manche Texte nicht so genau zu hören waren.
Manches Stück wurde ziemlich berühmt. „Gimme Shelter“ etwa, eigentlich ein apokalyptischer Song, ein Hilfeschrei nach Schutz vor Mord und Krieg und Unwetter – mit der ekstatischen Merry Clayton als Gastsängerin. Oder der Titelsong „Let It Bleed“ mit seinen kruden, unklaren Sex- und Drogenfantasien. Oder das abschließende „You Can’t Always Get What You Want“ mit seinem halb ironischen Realismus. Durch die Trump-Kampagne hat der Song auch 2016 wieder für Schlagzeilen gesorgt. Auf die Idee, hier Chorgesang einzubauen, waren die Stones durch den Beatles-Hit „Hey Jude“ gekommen. Weil kein Gospelchor zur Hand war, engagierten sie dafür kurioserweise den renommierten London Bach Choir. Der distanzierte sich später von dem Album, allerdings wegen eines anderen Songs, „Live With Me“. Überhaupt schielten die Stones immer mal wieder rüber zu den Beatles. Die Worte „let it bleed“ kommen im Titelsong zum Beispiel gar nicht vor – sie waren einfach eine Replik auf „Let It Be“, einen Song und ein Album, die damals erst angekündigt und noch nicht erschienen waren.
Eine Single-Auskopplung gab es nicht. Der Single-Hit der Stones im Jahr 1969 war „Honky Tonk Women“, das auf keinem regulären Album erschien. Allerdings taucht der Song auf Let It Bleed in einer veränderten Version auf und heißt hier „Country Honk“. Der Country Blues war in der Tat die wichtigste Inspiration für die Band damals. Gewalt, Sex, Drogen, Frustration, Satan und der Blues – das gehörte für Jagger irgendwie zusammen. Sogar eine echte Blues-Coverversion gibt es auf dem Album, „Love In Vain“, einen damals ganz neu entdeckten Robert-Johnson-Song – er bildet den leisen Ruhepunkt auf der A-Seite. Sein Pendant auf der B-Seite ist „You Got The Silver“, ausnahmsweise gesungen von Keith Richards, dem Bluesgitarren-Spezialisten. Jagger war gerade außer Landes, also übernahm Richards seinen Job.
Eigentlich hätten die beiden das Album ohnehin ganz alleine machen können. Richards spielt fast alle Gitarrenparts, auch Gegenstimmen und andere Overdubs. Ihren früheren Bandleader Brian Jones schmissen sie gerade aus der Band – seinen Ersatzmann Mick Taylor lernten sie gerade an. Das Album enthält die letzten Stones-Aufnahmen mit Jones und die ersten mit Taylor. Gelegentlich holte man für die Songs noch einen Keyboarder dazu oder einen Bläser. Der Saxofonist Bobby Keys, der viele Jahre lang zur Tourband gehören sollte, spielt in „Live With Me“ zum ersten Mal auf einer Stones-Platte.
Let It Bleed gilt als eines der besten Rockalben von 1969 – und war eines der erfolgreichsten: Nummer eins im UK, Nummer drei in den USA. Die Idee zum surrealistischen Albumcover entstand, als der Arbeitstitel der Platte noch „Automatic Changer“ hieß. Auf dem Plattenwechsler ruht keine Schallplatte, sondern eine Torte, und ihre inneren Schichten bilden ein Fahrradreifen, eine Pizza und ein Ziffernblatt. Die Torte selbst soll übrigens ein Werk von Delia Smith gewesen sein, die später als Kochbuch-Autorin und TV-Köchin Karriere machte. (1969 arbeitete sie noch im Bereich „food photography“.) Die schwäbische Punkband K.G.B. hat die Tortenkonstruktion für ihr Album Fiesta Fiasko einfach nachgebaut – inklusive kleiner Figuren obendrauf. Neu sind eigentlich nur die Jubiläumskerzen und die Zahl „25“. So alt war die Band damals.
Gegründet haben sich K.G.B. (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen US-Band der Siebziger) 1980 in Tübingen, der ehrwürdigen Universitätsstadt, wo Walter Jens und Ernst Bloch einst gelehrt haben. Vielleicht erklärt dies ein wenig, warum Hannes Koerber, der Bandleader und Sänger von K.G.B., so viel Wert auf gute (deutsche) Songtexte legt und sogar die Lyrics im Booklet abdrucken lässt. (In einer Lyrik-Anthologie wurde Koerber auch schon mal berücksichtigt.) Die 14 Songs sind präzise arrangiert, gehen hohes Tempo, mischen Sprechgesang mit eingängigen Refrains – es ist ein ausgereiftes Edel-Punkrock-Rezept. Koerbers immer wieder neu besetzte Band hat ihren Namensgeber – den sowjetischen Geheimdienst – locker überlebt. Deshalb wurde die Abkürzung K.G.B. von der Band immer wieder anders gedeutet, etwa als „Kein Grund zur Beruhigung“, „Korrupt, gierig, bestechlich“ oder „Kerngesunde Biertrinker“. Ende der 1980er Jahre gingen K.G.B. sogar auf US-Tournee. Doch die meiste Zeit waren ihre Songs einfach „zu schade / für die Hitparade“.
Rolling Stones: Let It Bleed (ABKCO 8585-2)
K.G.B.: Fiesta Fiasko (ZYX 20720-2)