Die heimlichen Meisterwerke des Jazz – Bug Music
Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.
Von 1937 bis 1939 gehörte das Raymond Scott Quintette (eigentlich war es ein Sextett) zu den erfolgreichsten Bands Amerikas. Scotts Musik erklang damals in populären Radioprogrammen und Hollywoodfilmen und füllte regelmäßig große Konzerthallen. Auch Klassikstars wie Jascha Heifetz und Igor Strawinsky liebten diese Band.
Raymond Scotts Spezialität waren klassisch affizierte, dichte Drei-Minuten-Stücke im Stil und Sound des damals angesagten Swing-Jazz. Seine hochvirtuose Band brillierte dabei mit originellen Themen, hohem Tempo, plötzlichen Umschwüngen, unerwarteten Tempowechseln, verrückten Tonskalen und eng verzahnten Ensemblestellen. Es gab keine Improvisation, aber Scott nannte diese Musik „Descriptive Jazz“. Die Jazz-Fachleute sprachen dagegen eher von „schrulligem Pseudo-Jazz“.
Immerhin griffen damals einige echte Jazzbands die Idee des „Kammer-Swing“ auf – am konsequentesten das Sextett von John Kirby. Heute ist diese Art von Musik weitgehend vergessen. Allenfalls in Zeichentrickfilmen hört man noch Raymond Scotts clevere Einfälle, etwa seine unverwüstlichen Evergreens „Powerhouse“ oder „The Penguin“. (Letzterer inspirierte das Albumcover von Bug Music.)
Der Klarinettist Don Byron ist bekannt dafür, dass er gerne dem Zeitgeist Paroli bietet und sich zwischen alle Stühle setzt. Vor Bug Music machte er zum Beispiel ein Album mit Musik des Klezmer-Stars Mickey Katz. Später lieferte er auch eine Hommage an den R&B-Saxofonisten Junior Walker. Dagegen ist Don Byrons eigene Musik eher in der New-Jazz- und Neue-Musik-Avantgarde zu Hause.
Auf Bug Music sind Jazz-Abenteurer am Werk, darunter der Trompeter Steven Bernstein, der Posaunist Craig Harris, der Pianist Uri Caine. Es ist Byrons feste Überzeugung, dass Revivals nicht den Konservativen überlassen werden sollten, wenn man den originären, avantgardistischen Spirit der Originale wirklich einfangen will. Nur Freigeister können eine Musik neu beleben, die einmal von Freigeistern erfunden wurde.
16 Stücke präsentiert sein Ensemble, alles Originalwerke von Raymond Scotts Sextett, John Kirbys Sextett oder von ihrer aller Idol, dem Duke Ellington Orchestra. Byron hat sämtliche Stücke selbst transkribiert und eingerichtet – es sind dichte, minutiös ausgefeilte, virtuos ausgeführte Arrangements in einer Spielart von vorgestern. Die Musikpresse attestiert Byron „Respekt und großes Verständnis für einen vergessenen Stil“. Trotz des anachronistischen Eindrucks eroberte das ungewöhnliche Album in den Neunzigern die „Contemporary Jazz Charts“.
Diese feinsinnigen, hochkomplexen Miniaturen (fast alle unter drei Minuten Länge) bedienen keineswegs eine populäre Nostalgie. Sie reanimieren vielmehr eine groteske musikalische Nische, die schon um 1940 entweder als originell oder als schrecklich empfunden wurde. Daher der Albumtitel Bug Music. Der Begriff stammt aus der Cartoon-Serie The Flintstones und spielt dort auf die Beatlemania an (beetle = bug), die in den 1960er Jahren die USA heimsuchte wie eine Epidemie. Damals fand man die Beatles auch entweder geil oder furchtbar.
Don Byron – Bug Music auf discogs.com