Was ATR-Co-Chef Markolf Heimann umtreibt
Als Markolf Heimann kurz vor der Pandemie bei der HiFi-Vertriebsfirma ATR einstieg, schien die Aufgabenteilung noch klar zu sein: auf der einen Seite die Hersteller von mehr oder weniger anspruchsvoller Hardware für Unterhaltungszwecke, auf der anderen die Händler, die jene Produkte an die Frau oder den Mann bringen sollen. Und dazwischen der Vertrieb, der irgendwie dabei mithilft, die Bedürfnisse der Kundschaft zu befriedigen. Ein überholtes Rollenbild, das an vielen Stellen schon aufgebrochen wird und so nicht überlebensfähig ist, wenn es nach Markolf Heimann geht. Denn der will die Branche grundlegend neu denken. Und neue Allianzen schmieden, wie er im FIDELITY-Interview verrät.
FIDELITY: Herr Heimann, die Welt wird von Krisen geschüttelt, auch der HiFi-Branche weht nicht erst seit der Pandemie ein rauerer Wind entgegen. Macht Ihnen Ihr Job eigentlich noch Spaß?
Markolf Heimann: Gewiss, sonst würde ich ihn nicht machen. Übrigens war die Pandemie für unsere Branche gar nicht schlecht. Wir haben vom Cocooning profitiert, dem Wunsch der Menschen, es sich zu Hause schön zu machen. Ohne tiefgreifende Veränderungen wird es unserer Branche allerdings nicht mehr lange gut gehen, deshalb gilt es zügig zu handeln. Wir verkaufen Luxusprodukte und damit Träume. Die Frage ist, wie wir diese Träume in die Köpfe der relevanten und von uns vernachlässigten Zielgruppen von heute und morgen bringen.
Wie präsentiert sich der Markt momentan in Ihren Augen?
Man muss sich grundsätzlich fragen, wohin sich die HiFi- und damit die High-End-Branche entwickelt. Derzeit befinden wir uns in einem Tal. Der typische Genuss-Musikhörer ist heute zwischen 50 und 70. Damit lässt sich ausrechnen, bis wann wir die nächste Generation als Abnehmer für hochwertiges HiFi gewonnen haben müssen. Andererseits gibt es auch und gerade in dieser Generation jene, die gut situiert sind, sich also ausgezeichnetes Equipment leisten könnten, aber das Thema HiFi aus den Augen verloren haben. Die müssen wir zurückholen. In jedem Haushalt sollte mindestens eine gute Stereoanlage stehen. Wenn die Eltern oder Großeltern so etwas besitzen, wird das Interesse an hochwertiger Musikwiedergabe auch bei Kindern und Enkeln geweckt. Deshalb schließen sich High End und In-Ear-Kopfhörer auch nicht aus. Und wenn am anderen Ende des Kopfhörers kein mit MP3-Dateien gefülltes Handy baumelt, sondern ein HiRes-Spieler, dann stimmt auch die klangliche Qualität.
Stichwort Qualität: Sie propagieren seit geraumer Zeit einen ganzheitlichen Ansatz …
… ohne den es nicht geht. Gute Musik über eine gute Anlage hören, dazu ein gutes Glas Wein oder einen wunderbaren Cappuccino, vielleicht noch ein gutes Buch lesen in einer Umgebung, in der man sich wohlfühlt, gerne auch mit Freunden – das sind alles Bausteine, die zu einer Bereicherung der Lebensqualität führen. Und sie sind so individuell, wie es die Hörer sind. Das war auch der Grund, warum wir mit ATR in die Villa Belvedere nach Eltville am Rhein gezogen sind. Wir wollten weg vom nüchternen Lagerhallen-Image, das einem Vertrieb per se anhaftet. Es geht nicht zuletzt auch darum, für den Markt und die Geschäftspartner attraktiv zu sein. Viele Händler geben sich größte Mühe, ihrer Kundschaft ein besonderes Erlebnis zu bieten. Da ist es nur folgerichtig, wenn auch ein anspruchsvolles Vertriebsunternehmen wie ATR die Zeichen der Zeit erkennt, die alten Gemäuer hinter sich lässt und schon durch die Gestaltung der neuen Firmenzentrale deutlich macht, dass das Thema HiFi nachhaltig ernst genommen wird. Das Lebensgefühl, das wir vermitteln wollen, muss sicht- und spürbar werden. Dazu gehört auch, mit Produkten, die vielleicht nicht völlig pragmatisch und zweckgebunden gestaltet sind, den Spieltrieb zu befriedigen. Natürlich darf dazu die Stereoanlage oder das Heimkino auch dienen – aber die Inhalte sollten im Mittelpunkt stehen. Die Elektronik und die Lautsprecher sind letztlich nur Mittel zu dem Zweck, Musik möglichst gut wiederzugeben.
Die Hardware nimmt bei Ihnen trotz aller Pragmatik ganz breiten Raum ein, ATR hat über 20 Marken unter Vertrag.
Weil es nicht nur einen Weg gibt: Wir sprechen Individualisten an, auf der Händler- wie auf der Konsumentenseite, die ganz eigene Vorstellungen von HiFi haben. Das erfordert Auswahl und Vielfalt. Auch die Hörgeschmäcker sind ja ganz unterschiedlich. Manche lieben Rock und Pop oder Jazz, andere heben bei einer Wagneroper oder einer Sinfonie von Gustav Mahler ab. Auch mein eigener Musikgeschmack hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Ich höre viel mehr Klassik und Oper als früher. Das braucht bei authentischer Lautstärke große Systeme zur Musikwiedergabe und geeignete Räume, sonst bleiben die Faszination und das Besondere auf der Strecke. Und weil auch die Musik nur ein Teilaspekt auf dem Weg zu mehr Lebensqualität ist, braucht es neue Kooperationen, denn allein kann die HiFi-Branche das gar nicht mehr leisten.
Wie stellen Sie sich in diesem Zusammenhang das Netzwerken vor?
Wir wollen mit starken Marken kooperieren, die unsere Philosophie teilen, neudeutsch: Co-Marketing. Zum Beispiel mit dem legendären Kamerahersteller Leica, der sich im Zuge des Booms der Digitalfotografie ebenfalls neu erfinden musste und inzwischen mit Nischenprodukten wie den digitalen (und auch wieder analogen!) Leica-M-Sucherkameras stärker als jemals zuvor zur Kultmarke entwickelt hat. Das ist schon sehr ähnlich zu unserer Branche, wo zusätzlich zu allem Digitalen das Analoge wieder als wertvoll empfunden wird, als Teil des bewussten Genusses. Analoge Cover-Art war bei Schallplatten auch schon immer ein Thema und dürfte einer der Gründe sein, warum manche junge Menschen sich sogar Schallplatten kaufen, obwohl sie (noch) gar keinen Plattenspieler haben. Übrigens: Rund eine Woche vor der Münchner HIGH END findet bei uns ein Workshop zur analogen Fotografie statt, der von Leica veranstaltet wird. Und wir lieben guten Kaffee. Deswegen kooperieren wir mit La Marzocco als einem der besten Maschinenhersteller. Machen Barista-Workshops und Kaffeeverkostungen. Das bringt neue Zielgruppen zu uns nach Eltville, die dann eine lustvolle HiFi-Botschaft mitnehmen, obwohl sie aus einem anderen Grund gekommen waren. Gleiches gilt für unsere Vernissagen mit relevanten Künstlern oder Weinproben und Verkostungen mit führenden Weingütern. Würden wir dieses Interview in Eltville führen, würde ich Ihnen vielleicht zu einer Schallplatte von Silje Nergaard ein Glas Riesling vom Weingut Kaufmann aus dem Rheingau oder ein Glas Sauvignon Blanc vom Weingut Von Winning aus der Pfalz anbieten. Beide Winzer sind übrigens ausgewiesene Musik- und HiFi-Liebhaber und regelmäßig für Weinproben bei uns im Haus. So schließt sich der Kreis.
Klingt nach einem schlüssigen Ansatz. Aber wie setzt man ihn um?
Es geht um umfassende Qualität, um spürbare Erlebnisqualität. Und die kann nur funktionieren, wenn sie erst einmal definiert und dann ständig überprüft wird. Umfassend bedeutet aber auch, das es nicht nur um die Produkt- und Präsentations-, sondern auch um die Service- und Supportqualität geht. Tun wir das alle, tun wir genug? Wenn wir uns ansehen, was führende Marken aus dem Luxusgüterbereich wie etwa Rolex, Mercedes oder La Marzocco tun, um ihre Marken nachhaltig positiv erlebbar und begehrenswert zu machen, egal ob am Point of Sale, im Aftersales, im Gebrauchtmarkt oder in den Publikumsmedien, dann erkennen wir, dass wir noch eine Menge zu tun haben, wenn wir als Thema und Branche wieder wirklich relevant werden wollen. Nur am Rande: Kennen Sie jemanden, der eine mechanische Uhr von Rolex oder Patek Philippe kauft, weil sie die Uhrzeit genauer anzeigt oder mehr Features hat als eine billige Quarzuhr? Ich persönlich nicht, und ich denke, dass wir immer noch viel zu sehr über Technik und zu wenig über Emotionen sprechen. Das grundsätzliche Ziel unserer Branche ist aus meiner Sicht schon klar formuliert: Es muss uns gelingen, dass eine gute Stereoanlage und damit gute Musikwiedergabe wie früher wieder zum guten Ton und in jedes Wohnzimmer gehören. Hin also zu einem zeitgemäßen und angenehmen Lebensstil. Der Weg dorthin ist aber noch weit.
Und was ist über den Vermarktungsaspekt hinaus entscheidend?
Der passende Rahmen für das bewusste Musikhören. Und die richtigen Produkte. Keine Mono-Lautsprecher oder Brüllwürfel, die nicht im Ansatz in der Lage sind, die Seele und Botschaft der Musik zu vermitteln, geschweige denn, den Hörer zu berühren. Wo Qualität eine Rolle spielt, muss sie auch stattfinden dürfen. Deshalb achten wir auch bei der Zusammenstellung unseres Markenportfolios sehr genau darauf, Partner zu finden, die mit uns einen überdurchschnittlichen Qualitätsanspruch, einen zu unserer Philosophie passenden Ansatz teilen. Der Klang ist dabei immer eine wesentliche Größe – aber bei weitem nicht die einzige.
Was erhöht außerdem den von Ihnen angestrebten Genussfaktor beim Musikhören?
Es braucht, gerade für die „Rückkehrer“, die mit einer Stereoanlage aufgewachsen sind, sie dann aber aus dem Auge verloren haben, eine gewisse Einfachheit und auch entsprechenden Bedienungskomfort. Ein Multiroom-System etwa, das sich über die Apple Watch bedienen lässt und für dessen Aufbau man weder Elektroingenieur noch Programmierer sein muss. Dafür mit automatisiertem Roon-, Spotify- oder Qobuz-Zugang ausgestattet.
Das klingt nun aber nach einem Konzept, bei dem ein aufwendiges Räderwerk präzise ineinanderzahnen muss.
Genau wie in allen anderen vergleichbaren Branchen auch. Ich sehe ATR in der Zukunft als Systempartner, der mit seinen Lieferanten und Fachhändlern eine Win-Win-Win-Verbindung eingeht und im besten Sinne Mehrwert schafft. Wir möchten in allen qualitätsrelevanten Bereichen eine führende Rolle übernehmen – und das funktioniert nur mit Allianzen, bei denen alle Beteiligten die Vision bester Qualität in Verbindung mit einem hohen selbstgestellten Anspruch teilen. Diese grundlegende Idee inkludiert andere als die gewohnten Service- und Supply-Konzepte, andere Formen der Kooperation zwischen Handelspartnern, andere Marketingkonzepte, kurz: eine andere Herangehensweise.
Was steht in naher Zukunft auf der ATR-Agenda?
Wir ziehen im Mai mit unserem Lager und Service von Mülheim in den Rheingau, in unmittelbare Nähe unseres Sitzes in Eltville. Von dieser räumlichen Zusammenlegung erwarten wir uns weitere, wesentliche Verbesserungen unserer Logistik- und Servicefähigkeiten. Und wir haben die HIGH END in München unmittelbar vor uns. Also gerade keine Atempause. Daneben gibt es aber auch einen entspannenden Höhepunkt, auf den wir uns alle sehr freuen: Am Donnerstag, den 1. Juni werden wir unter dem Motto „live@eltville“ in unserer Villa Belvedere eine Aufnahmesession mit der Band De-Phazz machen. Ein Livemitschnitt auf analogen Bandmaschinen mit maximal 40 Gästen. Clubatmosphäre, wenn Sie so wollen. Am Ende steht eine limitierte 180-Gramm-Vinylpressung auf unserem ATR-Label. Auch dabei geht es uns um das bewusste Genießen von Musik, um eine Abkehr von dem Credo, dass alles noch riesiger, noch aufwendiger sein muss. Ein Gegenentwurf zur allgegenwärtigen Reizüberflutung, ein Bekenntnis zu Leidenschaft, Herzblut und Wahrhaftigkeit. Immer mit dabei natürlich: gute Freunde – und die Lust auf Genuss!