The Rolling Stones Unzipped
Der Ausstellungskatalog The Rolling Stones Unzipped setzt sich mit dem Phänomen der wohl dienstältesten aller Rockbands auseinander.
Sie sind die wohl dienstälteste Rockband des Planeten, haben den Verlust mehrerer Mitglieder der Gruppe verkraftet und gehen in einem Alter noch auf die Bühne, in dem andere schon seit Jahrzehnten den Ruhestand genießen: Die Rolling Stones sind eine Ausnahmeerscheinung selbst im Hochgeschwindigkeits-Pop-Biz des 21. Jahrhunderts. Sie und ihre Geschichte zwischen zwei Buchdeckeln zu komprimieren, erscheint wie ein aussichtsloses Unterfangen. Der bei Edel Books erschienene, 288 Seiten starke Ausstellungskatalog Unzipped versucht das Unmögliche – und schafft es, selbst eingefleischten Stones-Fans noch Neues zu präsentieren.
Ausstellungstitel und Begleitbuch beziehen sich auf das wohl legendärste Cover, das je eine Rock-LP zierte: Sticky Fingers, erschienen am 23. April 1971, zeigte den Unterkörper des Schauspielers Joe Dallesandro in enger Röhrenjeans. Das Cover wurde von der Pittsburgher Pop-Art-Ikone Andy Warhol für 15 000 englische Pfund gestaltet und hatte einen funktionsfähigen Reißverschluss eingearbeitet, nach dessen Öffnen man weiße Unterwäsche erkennen konnte. Im Ausstellungskatalog Unzipped ist nachzulesen, dass diese ungewöhnliche „Zugabe“ zunächst beim Versand Dellen ins Plattenvinyl presste, ehe man auf die Idee kam, den Reißverschluss vor dem Verpacken offen zu lassen – so wurde von ihm lediglich das Label in der Mitte verdrückt, ohne dass die Rillen Schaden nahmen.
Fürs Buch wurde dieses bewusst erotisch konnotierte Cover stark verfremdet und abstrahiert. Nun prangt es als schwarz-roter Prägedruck auf dem Einband, garniert mit dem Zungenlogo der Stones, das ebenfalls bei Sticky Fingers – als erster auf dem eigenen Plattenlabel Rolling Stones Records erschienenen Scheibe – Premiere feierte.
Erstmals auf die Bühne gingen die Stones, die sich nach einem Bob-Dylan-Song benannt hatten, vor unfassbaren 60 Jahren, am 12. Juli 1962, im Marquee Club in der Londoner Oxford Street. In dem Konzert mit fünf Coversongs traten Mick Jagger (Gesang), Brian Jones (Gitarre), Keith Richards (Gitarre), Dick Taylor (Bass), Ian Stewart (Piano) und nach heutiger Quellenlage Tony Chapman (Schlagzeug) auf, erstmals unter dem Namen „The Rollin’ Stones“. Für Unzipped hat die Musikjournalistin und Szenegröße Edith Grove Interviews mit Mick Jagger, Keith Richards und Charlie Watts geführt und sie die wilden Anfangsjahre Revue passieren lassen. Wie sich die einstigen Schulfreunde Mick und Keith zufällig am Bahnhof trafen, wie man in einer heruntergekommenen Wohnung lebte und Musik machte, wie der durchaus zweifelhafte Charakter Brian Jones, damals schon dreifacher Vater und wegen Drogenbesitzes vorbestraft, zum Initialzünder der Bandgründung wurde und vieles mehr.
Den Charme von Unzipped macht aus, dass alle diese historischen Fakten mit Fotos und Erinnerungsstücken unterfüttert werden, etwa einer Aufnahme von Mark und Colleen Hayward (Getty Pictures), die Mick, Keith, Brian, Bill und Charlie 1963 auf einer Mauer im Londoner Chelsea Embankment sitzend zeigt. Fünf lockere College-Boys, die angetreten waren, die Popmusik-Landschaft grundlegend zu verändern.
Im Vergleich zur größten Konkurrenz jener Jahre, den Beatles, pflegten die Stones von Anfang an das Image der „bösen Buben“ mit gewalttätigen Tumulten der Fans bei den Konzerten, offensivem Groupie-Verschleiß und heftigem Rauschmittelkonsum. Dass Jagger und Co. jene Jahre vergleichsweise fit und munter überstanden, zählt zu den Mysterien, für die auch Unzipped keine richtige Antwort findet.
Dafür hat der opulente Ausstellungskatalog, was manchem anderen Buch über die Rolling Stones definitiv abgeht: Struktur. Der mit seinem Schwarzschnitt edle Anfassqualität bietende Schmuckband folgt einem ebenso klaren Plan wie die zugehörige Stones-Retrospektive, die im niederländischen Groningen zu sehen war und 2023 zurückkehren soll.
Getragen wird die Ausstellung von fühlbarer philologischer Ernsthaftigkeit. Die oft apostrophierten Blues-Wurzeln der Band werden unter anderem im Gespräch mit dem legendären schwarzen Bluesgitarristen und -sänger Buddy Guy analysiert, mit dem die Stones 1970 auch auf Tour waren. Den Kontakt stellte seinerzeit Muddy Waters her, ein weiterer Großer des Blues.
Überhaupt ist der Katalog Unzipped auch ein Schaulaufen von Szenestars, die man ausgiebig zu Wort kommen lässt, beispielsweise Don Was, wenn es um die Studioarbeit mit den Stones geht. Ein ganzes Kapitel widmet sich ausgiebig den Instrumenten, bei denen die Präferenzen der Musiker beileibe nicht immer auf den Gitarren-Standardmodellen von Gibson und Fender lagen.
Manches macht schmunzeln, etwa Glitzerkostüme im „Sergeant Pepper“-Stil: Um bestimmte Modetorheiten kamen auch die Rollings Stones nicht herum, obwohl sie in den vergangenen sechs Jahrzenten eher Trendsetter als Epigonen waren.
Unter dem Strich ist Unzipped ein lesenswertes, für 49,95 Euro auch durchaus erschwingliches Standardwerk nicht nur für jene Stones-Adepten, die von ihren Lieblingen schon so gut wie alles im Schrank haben. Außerdem macht das Buch großen Appetit auf die zugehörige Ausstellung. Ein unabdingbares Muss für Rockfans.
The Rolling Stones Unzipped
Edel Books, deutschsprachige Ausgabe, Hardcover, 288 Seiten, 49,59 €
ISBN 9783841907776