Die heimlichen Meisterwerke des Jazz – Herbie Mann – Memphis Underground (1969)
Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte. Dieses Mal: Herbie Mann – Memphis Underground (1969)
Wenn von den großen Stilpionieren des Jazz die Rede ist, fällt sein Name nur selten. Dabei hat Herbie Mann (1930–2003) gleich mehrfach den Jazz umgekrempelt. Als junger Mann spielte er noch Tenorsaxofon – aber gute Tenorsaxofonisten gab es damals in New York zu Dutzenden. Deshalb ergriff er die Chance, als ein Kollege für seine neue Band einen Querflötisten suchte. In kürzester Zeit erlernte er die Flöte und hat sie – als erster Jazzmusiker überhaupt – zu seinem Hauptinstrument gemacht: Er wurde der Vater der Jazzflöte. „Man muss auf seinem Instrument nicht schreien und kreischen, um Gefühle auszudrücken“, sagte er. Der Klarinettist Tony Scott bescheinigte ihm „den wärmsten Sound aller Flötisten“. Nicht nur Bebop und Cool Jazz meisterte Mann auf seinem Instrument. Die Flöte half ihm, immer mehr musikalische Facetten für den Jazz zu adaptieren: Afrokubanisches, Nahöstliches, Brasilianisches oder die Popsongs der Beat-Ära. Herbie Mann war einer der wichtigsten Pioniere der World Music und des Soul-Jazz.
In den späten 1960er Jahren spielten sich die amerikanischen und englischen Rockbands zunehmend frei und begannen über populäre Songs zu improvisieren. Herbie Mann sagte sich damals: „Mit einer guten R&B-Band kann ich das besser.“ Eine solche Band fand er in Memphis, Tennessee – es war die Hausband des renommierten American Sound Studio, in dem auch bedeutende R&B- und Countrymusiker aufnahmen, darunter Aretha Franklin, Wilson Pickett, Bobby Womack und Elvis Presley. Diese Band – mit E-Gitarre, Hammondorgel, E-Piano, Fender-Bass usw. – spielte im aktuellen, elektrischen Soul-Funk-Stil. Daneben hatte Herbie Mann aber noch ein paar junge, wilde, revolutionäre Jazzkollegen mit dabei. Allen voran: die beiden E-Gitarristen Sonny Sharrock (damals 28) und Larry Coryell (25) – sie brachten dem Jazz gerade neue, rockige Töne bei und mischten sie mit Freejazz-Inspirationen. Die drei E-Gitarren (der Memphis-Kollege war Reggie Young) klingen zeitweise wie eine Ankündigung des Free Funk.
Mit einer brandneuen modalen Komposition („Memphis Underground“), drei aktuellen Soulnummern (u. a. dem Aretha-Franklin-Hit „Chain Of Fools“) sowie der gospeligen „Battle Hymn Of The Republic“ als Zugabe („Glory, glory, hallelujah“) hat Herbie Mann im Sommer 1968 den Soul von Memphis und den Jazz von New York elektrisch verschmolzen. Ihm gelang, wovon Miles Davis damals erst träumte. Der Rolling Stone sprach von einem Stück „musikalischer Alchemie“, der Penguin Guide to Jazz von einem „Gründungsdokument der Fusion-Bewegung“. Herbie Mann meinte bescheiden: „Ich bin ein funky Jazzmusiker, der Flöte spielt. Mein Publikum hört nicht mit dem Intellekt, sondern mit dem Gefühl.“ Der Abstecher nach Memphis resultierte in der erfolgreichsten Jazzplatte von 1969 – sie stand monatelang auf Platz eins der amerikanischen Jazzcharts. Sogar in den US-Popcharts kam sie unter die Top 50.