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Interview mit Richard Kruspe

Richard Kruspe im Interview mit FIDELITY

Eher für Elvis

Richard Kruspe – “Eher für Elvis”

Bei Rammstein spielt er Gitarre flankiert von Flammenwerfern. Bei seinem Soloprojekt Emigrate aber konzentriert sich Richard Kruspe ganz auf die Musik. The Persistence Of Memory ist jetzt das vierte Album der Band. Im Interview mit FIDELITY spricht Kruspe über die Klangqualitäten eines alten DDR-Rundfunkhauses, seine selbst entwickelten Mikrofon-Roboter – und die Rock’n’Roll-Qualitäten von Rammstein-Sänger Till Lindemann.

Fotographie: Tobias Ortmann

Interview mit Richard Kruspe

FIDELITY: Herr Kruspe, ganz klassisch sprechen wir heute via Telefon. Nehmen Sie mich gerne mit in Ihre Welt: Wo erreiche ich Sie gerade?

Richard Kruspe: In meinem Keller. Ich sitze hier gerade hier in meinem Barber-Shop. Den habe ich mir während der Corona-Pandemie eingerichtet. Anfangs nur zum Haarestylen. Inzwischen fühle ich mich hier unten im Dunklen aber auch so sehr wohl. Übrigens, wir können gerne zum „Du“ wechseln.

Alles klar. Entstehen deine düsteren Rocksongs also zwischen Haargelflaschen und Waschbecken?

Ich habe tatsächlich auch ein Studio hier unten, mein Zweitstudio. Das andere ist oben im Penthouse, das ist sonnendurchflutet. Ich brauche diesen Wechsel zwischen hell und dunkel. Das inspiriert mich zu ganz unterschiedlichen Klangwelten. Aber sag’ mal: Der Raum, in dem du da sitzt, der hallt ja riesig. Das klingt enorm!

Das ist nur der Konferenzraum der Redaktion.

Klingt aber so, als ob ich mal fürs Drumrecording vorbeikommen müsste.

Da warne ich die Kollegen am besten schon mal vor … Aber kommen wir zum neuen Emigrate-Album. The Persistence Of Memory heißt übersetzt „Die Beständigkeit der Erinnerung“. Auf dem Album sind Songs, die du teils vor 20 Jahren geschrieben hast. Warum hast du keine neuen Lieder komponiert?

Das hat mit dem Ende der letzten Stadion-Tour von Rammstein 2019 zu tun. Wenn du jeden Tag von Tausenden Menschen zu hören bekommst, wie toll du bist, musst du erstmal damit klarkommen, wenn das plötzlich fehlt. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen, hatte überhaupt keine Motivation mehr, Musik zu machen. Um da wieder herauszukommen, bin ich in meine eigene Vergangenheit gereist. Die Ideen aus der Anfangszeit von Emigrate haben mir geholfen, mich wieder selbst zu finden.

Interview mit Richard Kruspe

Emigrate nahm erste Formen an, als du vor 20 Jahren nach New York zogst. Inzwischen lebst du wieder in Berlin. Müsste die Band jetzt nicht „Immigrate“ heißen?

(lacht) „Emigrate“ steht für mich nicht fürs Auswandern, sondern fürs Ausbrechen. Für das Verlassen meiner eigenen Komfortzone. Ich bin übrigens schon 2011 zurück nach Berlin gezogen, um mein drittes Kind hier aufwachsen zu sehen.

Freeze My Mind, die erste Single-Auskopplung der neuen Platte, entstand bereits 2001. Musste der Sound angepasst werden, damit er ins Jahr 2021 passt?

Ja, bis auf die Drums habe ich alles neu eingespielt. Die aber habe ich beibehalten, weil sie damals im Funkhaus in der Nalepastraße in Berlin aufgenommen wurden, im alten Rundfunkgebäude der DDR. Einer der bestklingendsten Drumrecording-Räume in Deutschland. Es stimmt aber schon, manche Sounds oder Ideen, die vor 20 Jahren cool waren, musste ich neu aufnehmen. Nicht alles, was retro ist, klingt auch schön retro. Manches klingt nur alt, nach Sounds, die niemand mehr hören will.

Mit Neuaufnahmen kennst du dich aus: A Million Degrees von 2018 musstest du seinerzeit ein zweites Mal einspielen, weil das Studio samt aller Festplatten komplett von einem Wasserschaden zerstört wurde.

Ein Drama damals. Ich musste alles aus der Erinnerung neu einspielen. Aber so verschieden zum normalen Studioalltag war das gar nicht. Ich starte eigentlich nie bei null, wenn ich einen Song schreibe. Auf irgendetwas fußt jede Komposition. Manchmal ist es eine Idee aus der Vergangenheit, manchmal nur ein Groove. Aber wann der entstand? Das habe ich nicht mehr im Kopf. Dafür kann ich jetzt Dächer reparieren. Ich musste das komplette Dach austauschen damals, da waren 1600 Liter Wasser reingelaufen. Dazu könnte ich dir auch jede Frage beantworten … (lacht)

Bist du handwerklich begabt? Für die Arbeit im Studio hast du eigens Mikrofon-Roboter gebaut, die sich automatisch zum Lautsprecher positionieren.

Die Roboter helfen mir, den Sweetspot zu finden, die optimale Positionierung der Mikrofone. Beim klassischen Gitarrenrecording mit Amp, Lautsprecher und Mikrofon ist man ständig auf der Suche nach dem idealen Klang. Um den zu finden, braucht es eigentlich einen zweiten Menschen im Studio. Einer ist im Control Room, der andere am Mikro an den Lautsprechern. Sonst muss man stundenlang allein hin und her tigern, um Mikrofone zu positionieren. Das Problem ist, das Gehör verändert sich jedes Mal, wenn man den Raum wechselt. Die Roboter ersparen mir das.

Du bist in der DDR aufgewachsen, hast in Amerika gelebt, bist mit Rammstein auf der ganzen Welt auf Tour. Wie beeinflusst ein Ort deinen Sound?

Das Studio, die Stadt, die Gefühlswelt, in der ich mich gerade befinde – all das beeinflusst den Sound. Künstler müssen Antennen für die verschiedensten Energien haben und die in sich aufnehmen können. Ich bin da extrem sensibel.

Interview mit Richard Kruspe

Berlin führt dich in andere Klangwelten als New York?

Auf jeden Fall. New York ist lebendig, schnelllebig und intensiv. Im East Village musste ich nur um den Block gehen und hatte bereits zig Eindrücke, die mich inspiriert haben, einen neuen Song zu schreiben. Mit Berlin habe ich diese Synergie heute nicht. Vielleicht bin ich aber auch bloß älter geworden.

Bei Emigrate hast du zuletzt einen jungen Kollegen dazugeholt, den italienischen DJ Andrea Marino.

Den Freund meiner Tochter. Moderne, auch junge Einflüsse sind wichtig. Ich interessiere mich dafür, wie sich Musik weiterentwickelt. Die Rockmusik als Rebellion hat ja schon lange ausgedient. Jetzt leben wir in einer digitalen Welt. Niemand hält es mehr aus, ein ganzes Album zu hören, alle skippen bei Spotify nur noch von Song zu Song. Und da stelle ich mir dann schon die Frage: Wird das auch das Songwriting verändern? Steht eine neue Musikrevolution an?

Dein Songwriting scheint es zu verändern: Das nächste Album könnte eine rein elektronische Platte werden, sagtest du kürzlich.

Den Hang zur elektronischen Musik hatte ich schon in meiner Jugend. Bands wie Kraftwerk, später dann Depeche Mode fand ich toll. Rammstein hat ja auch elektronische Klänge als festes Element. Wie ich Songs schreibe, hat sich inzwischen geändert. Früher stand am Anfang stets ein Gitarrenriff, aus dem sich alles entwickelt hat. So habe ich zwanzig Jahre lang Musik gemacht – einfachstes Songwriting letztlich. Mittlerweile habe ich mich weiterentwickelt, spiele mehr Instrumente, unter anderem Klavier. Mit Emigrate stelle ich mich neuen Herausforderungen. Eine rein elektronische Platte wäre genau das: eine komplett neue Herausforderung.

Wie das klingen könnte, ist schon beim Song „Get Down“ von 2014 zu hören. „Musik für einen Stripclub-Besuch“, so hast du das mal beschrieben. Ist das deine Zielgruppe?

Überhaupt nicht. Das gesamte Konzept Stripclub habe ich nie verstanden und fand ich immer fürchterlich. Wenn ich Musik höre oder schreibe, habe ich aber immer Bilder im Kopf. Im Fall von „Get Down“ war das eine Stripperin. Wenn ich kein Bild im Kopf habe, dann fehlt dem Song noch etwas. Hat sich erstmal ein Bild verfestigt, dann baue ich darum die Lyrics.

Welches Bild hast du bei „Always On My Mind“ vom neuen Album im Kopf?

Mutter Erde. So kam auch das Cover der Platte zustande.

Elvis Presley hat den Song berühmt gemacht. Hast du eine geheime Leidenschaft für alten Rock’n’Roll?

Eher für Elvis – wobei ich nie ein Elvis-Fan war. Seine Stimme beeindruckt mich. Ursprünglich war vorgesehen, dass die Originalstimme von Elvis auf dem Track zu hören ist. Als ich mit der herumexperimentiert habe, war ich richtig beeindruckt. Ein Sänger, der mit seiner Stimme einen Song, egal wie ich ihn arrangiert habe, so klar und einzigartig dominiert – Wahnsinn. Aber dann habe ich überlegt, wer den Song noch singen könnte.

Und kamst zu dem Schluss, dass Rammstein-Kollege Till Lindemann Elvis am besten ersetzen könnte.

Ich hatte vorher eigentlich an Iggy Pop gedacht. Mit dem stand ich auch schon in Kontakt. Aber dann kam mir Till in den Sinn. Seine Stimme ist ja auch unverkennbar.

Ist also Till Lindemann der Elvis der Neuzeit?

Beide sind zumindest Steinbock. Und beide haben eine Stimme, die alle Sounds durchbrechen kann. Aber Elvis der Neuzeit? Puh. Das sollen andere beurteilen.

Interview mit Richard Kruspe

Wie erreichst du es, dass ein Emigrate-Song mit Lindemann als Sänger anders klingt als ein Rammstein-Lied?

Früher habe ich Emigrate und Rammstein strikt voneinander getrennt. Alles, was Riff-basiert war, kam in den Ideen-Ordner für Rammstein. Und alles, bei dem ich zusätzlich Gesangsüberlegungen hatte, kam in den Emigrate-Ordner. Mittlerweile gibt es nur noch einen Ordner für Ideen. Gesangsmelodien kann ich inzwischen auch bei Rammstein mit einbringen. Beim Song „Deutschland“ habe ich Till zum Beispiel viele Impulse gegeben.

Die Musikvideos von Emigrate spielen häufig in Endzeit-Szenarien. Auch deine Klangwelten sind meist düster. Einblick ins Seelenleben von Richard Kruspe?

Alle Künstler kehren ja ihr Innenleben auf kreative Art und Weise nach außen. Meine Welt ist häufig düster. Überspitzt formuliert: Ich fühle mich in Moll wohler als in Dur.

Einige Songs aber sind dem Dur schon näher, „You’re So Beautiful“ auf der vorletzten Platte, „Come Over“ von der neuen.

Interessant, dass du ausgerechnet die beiden Lieder nennst. Das sind nämlich Songs, die ich meinen Kindern gewidmet habe. Sie haben die Kraft, mich aus dunklen Welten herauszuziehen. Das ist gut beobachtet, muss ich sagen.

Bei Emigrate haben schon der inzwischen verstorbene Motörhead-Frontmann Lemmy Kilmister oder auch Marylin Manson gesungen. Gibt’s auch Künstler, an die du dich noch nicht herangetraut hast?

Zwei sogar. Martin Gore von Depeche Mode und Trent Reznor von Nine Inch Nails. Wobei: Mit Gore stand ich schon mal in Kontakt. Mit Reznor noch nicht. Die Art und Weise, wie er Harmonien zusammenführt, berührt mich total.

In der DDR warst du einst DJ, genauer gesagt: Schallplattenunterhalter.

Ich wollte einfach Musik machen. Auf der Bühne stehen. Das hätte auch die Blaskapelle werden können. Wurde dann der Schallplattenunterhalter.

Was war dein Rausschmeißer-Lied?

(lacht) Ey, das ist so lange her … Ich weiß aber noch, welchen Song ich immer besonders gern aufgelegt habe.

Und zwar?

„Rock & Roll Part 2“ von Gary Glitter. Da sind die Leute echt drauf abgegangen.

Richard Kruspe, ich danke dir für das Gespräch.


Emigrate

Interview mit Richard Kruspe

Emigrate ist das Soloprojekt von Richard Kruspe (54), Gitarrist der deutschen Rockband Rammstein. Das gleichnamige Debütalbum Emigrate erschien im Jahr 2007. The Persistence Of Memory heißt das neue und mittlerweile vierte Album. In der Vergangenheit bat Kruspe immer wieder bekannte Gastkünstler ins Studio, etwa Frank Dellé vom Hiphop-Kollektiv Seeed oder Motörhead-Frontmann Lemmy Kilmister. Auf dem neuen Album aber singt bei einem Song ein alter Bekannter: Rammstein-Kollege Till Lindemann. Richard Kruspe wuchs in einem brandenburgischen Dorf in der DDR auf. In seiner Jugend war er erfolgreicher Ringer, machte später eine Ausbildung zum Koch, arbeitete nebenbei als DJ, lernte Gitarre und spielte in verschiedenen Punk-Bands. Er gehörte 1994 zu den Mitbegründern der Industrial-Rockgruppe Rammstein, einer der erfolgreichsten Bands der deutschen Musikgeschichte. Nach elf Jahren in New York lebt Kruspe heute wieder in Berlin.

Emigrate auf JPC

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