Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack. Dieses Mal: Wishbone Ash – Phoenix, 1970
Als sich diese Band formierte, gab es etliche Bewerber für den Gitarristenjob. Zwei Kandidaten kamen in die engere Auswahl, und weil man sich nicht zwischen ihnen entscheiden konnte, nahm man sie schließlich beide. Dafür sparte man sich dann einen Keyboarder. Der „dual lead guitar sound“ von Andy Powell und Ted Turner wurde zum Markenzeichen von Wishbone Ash und sollte viele Bands inspirieren, die dann deutlich härter und „metalliger“ unterwegs waren. Wishbone Ash dagegen besaßen immer diese relaxt-melodische Ader, etwas fast Südländisches, das an Karibik, Mittelmeer oder wenigstens Southern Rock denken ließ. Immerhin: Dieses Quartett kam aus Torquay, das ist für britische Verhältnisse ja fast schon mediterran. Die zwei Gitarristen spielten gerne einander überlappende Motive, zweistimmig harmonisierte Melodien, wohlgeordnete, kontrolliert entfesselte Improvisationen. Zu ihren frühesten Fans gehörte Ritchie Blackmore, der Gitarrist von Deep Purple, als deren Vorband sie auftraten. Blackmore vermittelte Wishbone Ash ihren ersten Plattenvertrag.
Was macht man nun mit zwei Gitarren in der Band? Man jammt eine Menge. Aus einem solchen Jam entstand „Phoenix“, der Schlusstitel des ersten Albums (10:27). Er ist der Lieblingssong vieler Fans der Band und bis heute der Höhepunkt beinahe jedes Ash-Konzerts. Auch die Musiker nannten ihn einmal ihr Meisterwerk. „Phoenix“ gliedert sich in zwei große Teile – Teil eins ist ein langsamer, gefühlvoller Walzer, eingeleitet von einem Trommelwirbel. Powell begleitet mit sentimentalen Wah-Wah-Sounds, Turners Solo holt Möwenschreie aus den Saiten, und geheimnisvoll schwillt der erste Ton des Chorgesangs an (ein langgezogenes „bird“). Bei 4:53 springt der Walzer dann um in Teil zwei, einen schnellen, ekstatischen Shuffle mit einem zweistimmigen Gitarrenriff – der Vogel wird neu geboren aus der Asche. Nur der Refrain „Phoenix rise!“ unterbricht noch mal kurz den beschleunigten Flug, dann startet Ted Turner zum großen „Phoenix“-Solo – Turner war der Blues-Spezialist der Band. (Das Solo ist aber kein Blues, sondern eine entfesselte Modal-Improvisation.) Bei 7:16 formiert man sich wieder in einem Rhythmusmotiv, bei 7:30 legt sich ein kräftiges, tiefes Gitarrenmotiv dazu, weitere Figuren gliedern den Ablauf. Bei 9:32 meldet sich der Refrain zurück: „Phoenix rise!“
Weil „Phoenix“ ein Jam-Stück ist (der Songtext besteht aus lediglich acht Zeilen), hat es sich in Konzerten noch stark weiterentwickelt – im Umfang, aber auch in vielen Details. Als frühe Referenzaufnahme gilt der Auftritt in Croydon im Juni 1973, zu hören auf dem legendären Album Live Dates. In dieser Konzertversion (17:12) beginnt der Shuffle-Teil bei 6:12, das folgende Gitarrensolo ist deutlich ausgedehnt. Das Rhythmusmotiv setzt bei 10:48 ein und geht ins Diminuendo – zeitweise hört man nur noch das rhythmische Klatschen des begeisterten Publikums. Erst bei 12:49 setzt das tiefe Gitarrenmotiv ein, bei 15:44 schließlich der letzte Refrain. Die Mythologie lehrt: Der Vogel Phönix macht mit seinen Tönen die Menschen glücklich.
Wishbone Ash – Phoenix auf jpc.
Mehr Longtrack? Hier geht’s lang …