The Pineapple Thief, 2018 – White Mist
Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack. Dieses Mal: The Pineapple Thief, 2018, White Mist.
Mit der Rock-Kategorie „Progressive“ ist es so eine Sache. Denn dieses Etikett wird für sehr verschiedene Stilistiken hergenommen, für metallharte Spielarten von Rock oder weich-melodische, für Avantgardistisches oder Naives … Der gemeinsame Nenner des „Progressive Rock“? Vielleicht, dass da Raum ist für instrumentale Passagen, die weit über das achttaktige 08/15-Gitarrensolo hinausgehen. Die britische Band The Pineapple Thief könnte man eine Teilzeit-Progband nennen. Ihr Schwerpunkt sind sicherlich nicht die instrumentalen Exkurse. Ihr Schwerpunkt sind Songs – melancholische Songs mit tagträumerischem Flow, einer schleichenden Spannung und einem originellen Klangbild. Bruce Soord, der Bandleader, meistert diese Songs auf unformalistische Art, mit weicher, interessanter, berührender Stimme. Da bleibt viel Raum im Klangbild, viel Raum zwischen den Vokalphrasen. Da steckt viel Finesse in den Details. Die meisten Stücke sind nur drei, vier Minuten lang.
„White Mist“ ist das längste Stück, das die Band in den 2010er Jahren aufgenommen hat. Auch „White Mist“ ist in erster Linie ein Song, eine melancholische, teils dramatische Ballade, ganz ohne Kehrtwendungen und radikale Brüche. Das Besondere an diesem Song ist, dass er sich viel Zeit lässt. Nach dem ersten Refrain („When did you lose control?“) gibt es 15 Sekunden, in denen sich nur der Rhythmus härter formiert (ab 0:58). Nach dem zweiten Refrain hören wir raffinierte kleine Metal-Riffs, ohne dass sie den Flow und die Stimmung stören würden (ab 2:12). Später kommt ein Einhalten (3:10) mit einigen Soundspielereien, ein neues Begleitmotiv taucht auf (3:33), ein kurzes Gitarrensolo fügt sich ein (ab 4:44). Da ist auch Platz für einige Drum-Breaks (ab 6:20), für elektronische Pulsationen, ein weiteres Gitarrensolo, wieder ein Einhalten (bei 8:00), einen erneuerten Rhythmus. Das längste Gitarrensolo vermischt sich mit dem letzten Refrain (ab 9:15), und danach gibt es noch eine Minute Ausklang, ganz ohne Schlagzeug.
Doch all das „Progressive“, was da geschieht, spielt sich nie in den Vordergrund, sondern passt sich in den Flow ein, ins Klangbild, in die melancholische Stimmung. „Songwriting war schon immer meine Leidenschaft“, sagt Soord. „Die Gitarre hilft mir nur, Songs zu schreiben. Für mich geht es um Melodie, darum, die Leute zu bewegen. Wenn ein Song dafür etwas länger sein und verschiedene Bestandteile haben muss: okay. Das ist das progressive Element bei uns.“
Das progressive Element in „White Mist“ wirkt unaufdringlich, aber es ist musikalisch hochinteressant. Gavin Harrison, der neue Schlagzeuger der Band, gerühmt für seine kreative Beat-Kunst, hat an diesem Stück (und allen anderen des Albums) mitkomponiert. In einem frühen Stadium der Songentwicklung hat er seine Ideen eingebracht, die Rhythmen und die Grooves am Drumset gestaltet. Und für die Gitarren-Highlights hatte die Band sogar einen Gastsolisten an Bord, den Amerikaner David Torn, einen legendären Grenzgänger zwischen Jazz, Pop, Noise und Filmmusik. Ein Solo von David Torn ist nie einfach nur ein Gitarrensolo.
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