Lautsprecher-Phänomene – Ergebnis: lückenhaft
Eine gute Anlage bildet unfassbar viele Details ab: ein Klingeln hier, ein tiefer Impuls dort. Doch noch viel entscheidender für unsere Wahrnehmung von Tonalität und Abbildung ist bisweilen das, was fehlt.
Illustration: Ralf Wolff-Boenisch
Manchmal benötigen unsere Sinne Starthilfe in Form eines satten Kontrasts. Ein Gegengewicht, das uns hilft, alle Eindrücke korrekt einzuordnen. Eine Prise Zucker, mit der die Nudelsoße noch würziger schmeckt, der Kinosaal, dessen vormals unscheinbare Fluchtbeleuchtung nach dem Abdunkeln zum Flutlichtstrahler mutiert, oder der beherzte Fehlschlag beim Hämmern, der uns vergegenwärtigt, wie schön die Welt noch vor fünf Sekunden war … Isoliert verliert vieles an Intensität, und daraus ergibt sich eine interessante Unannehmlichkeit: Häufig bemerken wir ohne Vergleich mit einem „Referenzwert“ gar nicht, dass etwas im Argen liegt.
Zumindest in highfidelen Belangen befindet sich das FIDELITY-Team in einer luxuriösen Ausnahme-Blase. Im Hörraum stehen zu jeder Zeit mehrere CD-Spieler, Plattendreher, Strömer, Verstärker sowie Lautsprecher bereit. Kabelsätze gibt’s ebenfalls reichlich. So ist es keine Sache, durch einen flinken A/B-Vergleich herauszufinden, was vermeintlich richtiger tönt oder (sollte das der Fall sein) wo genau der Schuh drückt. Dennoch tappen auch wir dann und wann in die Falle. Vor wenigen Wochen frohlockte ein Kollege über die atemberaubende Abbildung eines frisch ausgepackten Lautsprechers. Und tatsächlich spielte die stolze Standbox derart groß und sphärisch, dass ihre Musik uns sprichwörtlich umarmte und einschloss. Nach einem kurzen Moment mit heruntergeklappter Kinnlade setzte erste Skepsis ein. Irgendwie fehlte der Wiedergabe die gewohnte Power und Dynamik. Ein Gang um die Boxen offenbarte das Mysterium – einer der Lautsprecher war verpolt. Die Plus- und Minus-Stecker der LS-Strippe steckten in den verkehrten Buchsen seines Terminals. Das Problem ließ sich natürlich mit zwei Handgriffen beheben. Und doch brachte dieser kaum erwähnenswerte Zwischenfall eine interessante Frage auf den Tisch: Warum spielt ein verpoltes Boxenpaar so viel räumlicher als ein korrekt verkabeltes?
Phase, ick hör dir trapsen
Die elektrotechnische Bildungselite unter den FIDELITY-Lesern kennt die Antwort natürlich längst: Das verkehrt angeschlossene Lautsprecher-Duo spielt nicht ansatzweise größer, tiefer, weiter oder breiter als ein korrekt verdrahtetes. Der Kontrast ist einfach größer, weil in der Mitte etwas ganz Entscheidendes fehlt. Daher erscheint uns die nun völlig isolierte Rechts/links-Auffächerung extremer und bisweilen sogar interessanter.
Um die Hintergründe dieses Phänomens zu ergründen, sollten wir gedanklich am Mischpult eines Aufnahmestudios Platz nehmen. Ein erfahrener Toningenieur wird beim Abmischen immer versuchen, die Instrumente der Band oder des Ensembles homogen im Mix zu verteilen. Bei einem großen Orchester orientiert er sich dafür an der Sitzordnung der Musiker. Bei Pop, Rock und Elektronik ist mehr Kreativität erlaubt: Er schraubt so lange an den Panorama-Reglern seines Mischpults, bis sich die einzelnen Elemente nicht mehr im Weg stehen und die Bühne die erwünschte Breite bekommt. Vor allem energiereiche Elemente wie Bass und Kickdrum belässt er normalerweise in der Mitte. Erstens lassen sich ihre tiefen Frequenzen ohnehin kaum orten. Zweitens werden sie so von beiden Verstärkerkanälen und Lautsprechern gleichermaßen reproduziert – die energiehungrigen Tieffrequenzen werden von mehreren Leistungsträgern geschultert. Oft bleibt auch der Gesang (oder zumindest die wichtigste Gesangsspur) im Zentrum – das verleiht Stimmen mehr Präsenz und Fokus.
Und nun zur akustischen Komponente des Phänomens: Die Membranen eines Lautsprechers wandeln die elektrische Energie des Verstärkers in Schall um. Das gelingt ihnen, indem sie bei einer positiven Auslenkung des antreibenden Stroms eine Bewegung nach vorn machen oder sich bei einer negativen in ihr Lautsprecherchassis zurückziehen. Die elektrischen Wellenformen werden so in schnelle Luftdruckschwankungen gewandelt, die wir –einen Tusch bitte! – als Schall wahrnehmen. Die Ausbreitung dieser Schallwellen im Raum folgt einem festen Regelkatalog. Tiefe Frequenzen breiten sich kugelförmig um die Lautsprecher herum aus und decken so den gesamten Raum ab. Zu den Mitten hin wird die Abstrahlung des Lautsprechers immer gerichteter. Die Höhen schließlich werden vom Tweeter ohne nennenswerte Streuung direkt zum Hörplatz gestrahlt. Die Analogie mit einem Laserpointer ist an dieser Stelle übertrieben und bis zum Gähnen überstrapaziert, doch sie weist in die korrekte Richtung.
Daraus ergeben sich folgende folgenreiche Folgerungen: Bass- und Grundtonenergie beider Lautsprecher hat im Raum große Überschneidungen. Die Schallwellen überschneiden sich in komplexen Mustern, und wann immer zwei Druckhochs oder -tiefs aufeinandertreffen, verstärken sie sich gegenseitig. Bei den Mitten gilt dies noch bedingt. Hier finden schlicht weniger Überschneidungen statt. Die Höhen sind völlig aus dem Spiel, wobei ich betonen sollte, dass wir Aspekte wie Wandreflexionen, Diffusion und Nachhall zwecks „Entkomplizierung“ bewusst ausklammern.
Verpolt man einen der Lautsprecher, passiert Folgendes: Bassanteile und Grundton, die quasi mono im Zentrum der Abbildung stehen, verstärken sich nicht mehr, sondern werden durch die gegenläufigen Phasen nahezu oder vollständig ausgelöscht. Dieses Schicksal ereilt auch die Stimme(n) und sämtliche Instrumente, die beim Abmischen genau in der Mitte platziert wurden. Übrig bleiben in der Abbildung nur jene Frequenzanteile, die auf beiden Lautsprechern für den Stereo-Eindruck sorgen sollen, sich unterscheiden und so nicht auslöschen können. Das sind – bedingt durch die zuvor geschilderte Abmischlogik – insbesondere die oberen Mittenlagen und die Höhen. Oder extreme Stereo-Effekte wie die Hallfahne des Gesangs, deren sphärischer Tiefeneindruck die Abbildungsgröße noch verstärkt. Das große (Bass-)Loch in der Mitte der Bühne verstärkt unsere Tiefen- und Breitenwahrnehmung enorm. Alles ganz logisch, oder?
Und das bedeutet nun … was?
Nun, zuallererst einmal sollte man seine Lautsprecher korrekt anschließen! Das kann aufgrund der nicht immer klaren Farbkodierung von Kabeln und Anschlüssen (Weiß/Rot, Schwarz/Rot, Schwarz/Weiß) bisweilen eine kleine Herausforderung sein. Sollten Sie sich darüber hinaus jemals gefragt haben, wie es Halleffekten oder DSP-Prozessoren gelingt, raumfüllenden 3D-Sound aus zwei Stereo-Lautsprechern zu kitzeln, haben sie nun eine Antwort: Solche Systeme arbeiten – wenn auch merklich homöopathischer – mit exakt derselben Mechanik. Das extremste Beispiel ist hier wahrscheinlich das Auro-3D-Konzept, das durch muntere Phasendrehungen einigermaßen plastische 360-Grad-Abbildungen aus Monosignalen erzeugt.
Und so sehr es erstaunen mag, aus unserem Verdrahtungsfehler kann man auch ein paar ganz interessante und hilfreiche Lehren ableiten. Zum einen bekräftigt es mein persönliches Credo bei der Inbetriebnahme von Lautsprechern: Seit Jahren verwende ich beim Beginn meiner Tests denselben Song. Das konditioniert. Hätte ich es auch diesmal getan, wäre mir der Fehler sofort aufgefallen. Auf der anderen Seite lässt sich die bewusste Verpolung natürlich einsetzen, um frische Lautsprecher einzuspielen und deren „Matching-Qualitäten“ zu prüfen. Stellt man ein Boxenpaar mit einem phasengedrehten Lautsprecher dicht voreinander und bespielt es mit einem breitbandigen Mono-Signal (Rauschen, Sinus-Sweeps etc.), sollte fast kein Schall nach außen dringen. So kann man die Boxen für Tage einbrennen, ohne jemanden zu stören. Sollte man trotzdem noch auffällig viel von den Signalen hören, ist entweder das Paar-Matching der Lautsprecher nicht gut (auf Deutsch: die Boxen unterscheiden sich), oder Sie haben sich beim möglichst exakten Gegeneinanderstellen nicht genug Mühe gegeben.
Und schließlich kann man sich die Phasenauslöschungen eines verpolten Lautsprecherduos auch für die nahezu perfekte Aufstellung zunutze machen. In der Theorie soll eine Stereoanlage ja genau das leisten: Die Mono-Signale, also jene Impulse und Frequenzen, die von beiden Boxen wiedergegeben werden, sollen felsenfest in der Mitte stehen, während die Stereo-Differenzen (auch als „Side“ bezeichnet) weiter außen stehen und die Bühnenbreite definieren. Das funktioniert in der Praxis nur bedingt, da Wand-, Boden- und Deckenreflexionen sowie Raummoden die Abbildung stören. Legen Sie ein Mono-Signal (bevorzugt „rosa Rauschen“) auf und beobachten Sie bei verpolten Lautsprechern, wie gut Bässe und untere Mitten ausgelöscht werden. Sollten Sie sich bei der Bewertung der Frequenzen unsicher sein, können Sie einen Frequenz-Analyzer hinzuziehen, wie es ihn als kostenlose App für jede Smartphone-Plattform gibt. Sie werden vermutlich feststellen, dass hier und dort noch etwas durchkommt. Nun folgt die Sisyphusarbeit: Durch Verrücken und Einwinkeln der Lautsprecher kann man versuchen, ob man eine Positionierungsvariante findet, auf der die Boxen den Hörraum symmetrischer ausleuchten, die Auslöschungen entsprechend „lückenfreier“ sind. Das wird sich auch umgekehrt auf das „phasenrichtige“ Hören auswirken: Die Abbildung wird präziser und schärfer, die Bühne wirkt breiter – wie gesagt, der Kontrast macht die Musik.
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