Album-Doppel: Hirn und Herz
Im heimischen Kanada wurden die Alben der Progrock-Band Rush rund 20 Jahre lang regelmäßig mit Platin (oder mehrfachem Platin) ausgezeichnet.
Aber auch im großen Nachbarland USA verlieh man Rush viele Platinscheiben – und das sogar bis Anfang der 1990er Jahre! Britische Prog-Bands wie ELP, King Crimson oder Genesis (in ihrer progressiven Ära) konnten von solchen Erfolgen in Amerika nur träumen. Obwohl Rush als bloße Triobesetzung aktiv waren, eroberten sie durch schiere Spieltechnik und krude Science-Fiction-Fantasie den Respekt zahlloser Rockfans und Musikerkollegen. Um dieser Spieltechnik und den utopischen Inhalten besonderen Raum zu geben, schrieb die Band beinahe für jedes Album einen ausgedehnten, mehrteiligen, suitenartigen Longsong, der eine durchgängige Geschichte erzählt. Rushs fünftes Studioalbum Farewell To Kings (1977) endet mit dem vierteiligen Stück „Cygnus X-1 Book I: The Voyage“. Im Songtext geht es darum, wie ein Forscher mit seinem Raumschiff „Rocinante“ in einem Schwarzen Loch namens Cygnus X-1 verschwindet.
Die Fortsetzung – „Cygnus X-1 Book II: Hemispheres“ – eröffnet das Folgealbum und gab ihm seinen Namen: Hemispheres. Wieder handelt es sich um einen suitenartigen Longsong – er füllt diesmal sogar eine ganze Plattenseite. In der Story begegnen wir dem Raumfahrer aus „Book I“ wieder: Er ist durchs Schwarze Loch geflogen und seltsamerweise in der griechischen Mythologie gelandet. Apollon, der Gott des Lichts und der Vernunft, und Dionysos, der Gott des Rausches und der Emotion, liefern sich einen Kampf – Friedrich Nietzsche lässt grüßen.
Der Songtitel „Hemispheres“ spielt dabei auf unsere Gehirnhälften an, die (sehr vereinfacht gesagt) für Vernunft (links) und Emotion (rechts) zuständig sind. Unser Raumfahrer mausert sich zum Gott des Ausgleichs und erhält den Namen Cygnus: „Cygnus Bringer Of Balance“ heißt der fünfte Teil des Longsongs. Musikalisch noch beeindruckender ist ein zweiter Longsong auf dem Album, die zwölfteilige, fast zehnminütige Instrumentalnummer „La Villa Strangiato“. Die Band entwickelte diese „Suite“ erst im Studio und wollte sie an einem Stück aufnehmen, scheiterte aber an den spieltechnischen Schikanen rund 40 Mal. Schließlich hat man die Aufnahme aus verschiedenen Versuchen zusammengestückelt.
Noch bevor die Musik des Albums auch nur fertig geschrieben war, machte sich Hugh Syme ans Artwork. Für viele Rock- und Metalbands wie Aerosmith, Def Leppard, Megadeth, Queensryche, Survivor, Whitesnake u. a. war Syme lange Zeit der Covergestalter erster Wahl. Als Ausgangspunkt fürs Cover von Hemispheres hatte er lediglich die Songlyrics des Drummers Neil Peart – „hübsche handgeschriebene Seiten, die ich bis heute aufbewahre“, wie Syme verrät. „Die Band begann oft erst Musik zu schreiben, wenn Neils Lyrics fertig waren.“ Die Idee fürs Plattencover entstand nach Diskussionen mit Peart über die Funktionen der linken und rechten Gehirnhälfte.
Die beiden Figuren symbolisieren also die Vernunft (Apollon) und die Emotion (Dionysos). Sie stehen auf einem überdimensionierten Gehirn – man erkennt zwischen ihnen die Grenze der Hemisphären. Syme verriet, dass es für beide Figuren konkrete menschliche Modelle gab. Sogar für das Gehirn hatte er ein Modell – ausgeliehen von einem Anatomie-Institut. Das Albumcover entstand mit Airbrush, Pinsel und Fotoapparat – 1978 war Computergrafik noch nicht die Regel.
Instrumentalvirtuosen der neueren Prog-Szene demonstrieren gerne, dass die „Klassiker“ des progressiven Stils für sie nur hübsche Etüden sind. Die amerikanischen Supertechniker von Dream Theater zum Beispiel haben zwischen 2004 und 2007 mehrere Konzertmitschnitte veröffentlicht, auf denen sie berühmte Rockalben nachspielen – darunter Master Of Puppets (Metallica) und Made In Japan (Deep Purple). Der Mitbegründer und langjährige Drummer von Dream Theater, Mike Portnoy, initiierte 2006 auch eine Live-Hommage an Rush – nicht mit seiner Band Dream Theater, sondern unter einem Projektnamen: Cygnus And The Sea Monsters. Anlass des Tribut-Konzerts „One Night In Chicago“ war eine Veranstaltung, mit der ein großer Drumshop sein 20-jähriges Jubiläum feierte.
Was lag da näher, als dass einer der Schlagzeug-Koryphäen des Tages (Portnoy) eine Schlagzeug-Koryphäe von früher (Peart) ehrt? Natürlich macht es sich Portnoys Allstar-Quartett nicht einfach. Auf dem Programm stehen gleich drei legendäre Longsongs von Rush, nämlich „2112“ und beide „Cygnus X-1“-Suiten. Als Zugabe gibt es außerdem „YYZ“ zu hören, ein Instrumentalstück vom Rush-Album Moving Pictures, das Peart bei Liveauftritten der Band in der Regel für ein ausgedehntes Drumsolo nutzte. Portnoy greift diese Steilvorlage gerne auf.
Ein gewisser Scotty Hansen hat Hugh Symes Artwork für den Konzert-Tribut bearbeitet – er karikierte Portnoys Band als vier Seeungeheuer. (Die Dionysos-Figur muss man sich dann wohl als Cygnus umdeuten.) Im Booklet und Inlay gibt es weitere Artwork-Anspielungen, wobei der Original-Künstler (Hugh Syme) sogar erwähnt wird. Kein Wunder, denn Mike Portnoy wollte es sich mit dem renommierten Artworker keinesfalls verscherzen. Seit 2005 gestaltet Syme nämlich auch die Albumcover von Portnoys langjähriger Band Dream Theater.