Porcupine Tree, 2006 – Anesthetize
Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.
Das Album Fear Of A Blank Planet erschien im Frühjahr 2007 – es wurde das bis dahin bestverkaufte von Porcupine Tree. „Anesthetize“ ist mit 17:42 Minuten der mit Abstand längste Song auf diesem Album, sein Epizentrum, sein Meisterstück. Porcupine Tree hatten diesen Longtrack im Vorjahr bereits auf mindestens 23 Konzerten gespielt. Von 2007 bis 2010 spielten sie „Anesthetize“ weitere 225 Mal live. Viele Fans halten den Song für das beste Stück, das Steven Wilsons Band jemals aufgenommen hat. Ein Stück, in dem (fast) alles steckt, was progressiven Rock so schön macht – es ist beinahe ein kleines Album für sich, eine Drei-Satz-Sinfonie. Ein Progrock-Portal in den Niederlanden wählte „Anesthetize“ zum besten Track von 2007. Und nicht umsonst machte Wilson den Song noch drei Jahre später zum Titelstück einer Live-CD und Live-DVD.
„Anesthetize“ besteht aus drei Teilen, die ineinander übergehen. Das Tempo bleibt dabei konstant, wird nur im dritten Teil, einer psychedelischen Ballade, halbiert. Im ersten Teil, dem eigentlichen „Anesthetize“, brilliert Schlagzeuger Gavin Harrison mit dichten, fließenden Beatmustern, wie er sie später auch bei King Crimson vorgeführt hat. Im Kontrast dazu singt Wilson auf seine sanfte, melancholische Art, der Refrain steht weitgehend in ganzen Notenwerten. Es gibt zwei etwas rockigere Zwischenparts (ab 2:55 und 3:47) und dann als Highlight das rund einminütige Solo des Rush-Gitarristen Alex Lifeson (ab 4:04). Wilson erzählt: „Ich las in einem Interview, dass Alex ein Fan von Porcupine Tree sei. Daraufhin habe ich ihn einfach kontaktiert.“
Der direkt an Lifesons Solo anschließende zweite Teil („The Pills I’m Taking“, ab 4:58) liefert eine kräftige Portion Härte und enthält einige der originellsten Metal-Riffs in der Geschichte dieser Band. Da werden verschränkte Gitarrenfiguren in fünf Vierteln über den geraden Takt gelegt, werden sperrige Riffs zu einem 9/4-Zyklus gereiht, dann wieder andere Riffs zu einem 11/4-Zyklus usw. Zwischen diesen kompromisslosen, teils asymmetrischen Rockmotiven eingebettet erklingen die (wiederum weichen) Vocals des zweiten Teils. Sehr eingängig, fast Pop-affin tönt der Refrain: „Only apathy from the pills in me“.
Nach einem Bruch bei 12:12 nimmt das Stück als Ballade noch einmal sanfte Fahrt auf. Der Gesangspart im dritten Teil („Surfer“, ab 13:30) beginnt gestaffelt und mehrstimmig. Diese Surfer-Vision („water so warm today“) besitzt einen schönen, verträumten Pink-Floyd-Flow, zu dem man so richtig wegsegeln kann. Am Höhepunkt (16:24) übernehmen Gitarre und Mellotron – ein Fan meint dazu: „Dieser Part soll gespielt werden, wenn ich sterbe.“
Steven Wilson schrieb „Anesthetize“ Anfang 2006 in Tel Aviv, wo er damals das Album Blackfield II aufnahm. „Es war erfrischend, in einem anderen Land zu komponieren“, meinte er. Die frische Inspiration merkt man dem Stück an. Seine 18 Minuten vergehen wie im Flug.
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